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Wolfsjagd – Die (unvollendete) Geschichte eines Mörders (6)

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Hier geht’s zu den vorigen Kapiteln:
Kapitel 1: Wolfsjagd – Die (unvollendete) Geschichte eines Mörders (1) – Creepypasta-Wiki
Kapitel 2: Wolfsjagd – Die (unvollendete) Geschichte eines Mörders (2) – Creepypasta-Wiki
Kapitel 3: Wolfsjagd – Die (unvollendete) Geschichte eines Mörders (3) – Creepypasta-Wiki
Kapitel 4: Wolfjsagd – Die (unvollendete) Geschichte eines Mörders (4) – Creepypasta-Wiki
Kapitel 5: Wolfsjagd – Die (unvollendete) Geschichte eines Mörders (5) – Creepypasta-Wiki

– Kapitel 6 –

Das plötzliche Klingeln meines Handys riss mich aus dem wunderschönen Traum von letzter Nacht und zerrte mich zurück in die mehr oder weniger harsche Realität. Bedauerlicherweise ohne dabei Rücksicht auf meine Entscheidung zu nehmen, wann ich das tun könnte. Dabei wollte ich dieses Gefühl, diese Bilder und Emotionen zumindest noch für einige wenige Minuten genießen, denn wer weiß, wann ich wieder in einen solchen Genuss kommen würde.
Ich versuchte daher das Geräusch zu ignorieren, aber nach dem zweiten Mal des Klingelns gab ich es auf, denn sagte mir mein Kopf, dass es etwas wichtiges sein musste, ansonsten würde es nicht so auf sich aufmerksam machen.
Instinktiv streckte ich die Hand in Richtung des Nachttisches neben mir, aber lag es nicht an seinem gewohnten Platz, sondern auf dem Boden, unmittelbar neben dem Bett. Zuerst fragte ich mich, wie es dort hingekommen sein musste, als ich daran dachte, dass es sich wohl in meiner Hosentasche befand, nachdem ich aufgrund der gestrigen Erschöpfung in meiner Alltagskleidung eingeschlafen war und während meines Tiefschlafes aus der Hosentasche gerutscht sein musste.

Ich hob es auf und nahm den Anruf entgegen, ohne auch nur nachzusehen, um wen es sich bei dem Anrufer handelte, da der Kreis der Personen, die mich noch anriefen, mit meiner Degradierung recht überschaubar geworden war. Ich rieb mir die Augen, in dem Versuch die letzten Spuren der Müdigkeit abzuschütteln, um bei dem bevorstehenden Telefonat so wach und aufmerksam wie möglich zu sein, damit mir nichts entging und hielt das Telefon nur wenige Millimeter von meinem Ohr entfernt.

„Sergeant Winter.“, meldete ich mich mit noch einer gewissen Spur an Müdigkeit.

„Habe ich Sie geweckt, Sergeant?“ Es war diese ruhige, autoritäre und zugleich auch väterliche Stimme des Superintendent. Mit einem Mal verschwanden die letzten Spuren der vergangenen Nacht, mein Kopf fuhr hoch und trat sofort seinen Dienst an, während ich instinktiv auf die Uhr schaute, wobei ich bemerkte, dass es bereits kurz vor neun gewesen ist.

„Fuck.“, fluchte ich, riss die Decke von meinem Körper und wollte aufstehen, als mich der Superintendent noch immer mit derselben ruhigen Stimme innehalten ließ.

„Beruhig dich, Cass.“ Ich tat, wie mir geheißen wurde, als wäre es ein Befehl gewesen und entspannte mich wieder, während ich auf der Bettkante saß. „Du hast heute keinen Frühdienst.“

„Ja?“ Ich strich mir einige Strähnen aus dem Gesicht und versuchte mich an den Dienstplan zu erinnern. „T-Tut mir leid, Sir. Ich bin wohl noch nicht ganz da.“ Ich atmete kurz durch. „Ist etwas passiert?“

„Das besprechen wir, wenn du hier bist. Am besten legst du dich noch für einige Minuten hin, schließlich war gestern ein ziemlich langer Tag für dich.“

„Verstanden, Sir. Danke, Sir.“, erwiderte ich, legte auf und legte das Handy an seinen gewohnten Platz, während ich kurz durchatmete und plötzlich eine Regung hinter mir hörte. Ein wenig verwirrt schaute ich auf die andere Seite des Bettes, als ich realisierte, dass der Traum, von dem ich dachte ihn gestern lediglich geträumt zu haben, gar keiner gewesen ist, jetzt wo ich die schlafende Doktor Layhne neben mir liegen sah.

Mit einem kleinen Schmunzeln und einem innerlichen Dank, dass es doch keine Einbildung gewesen ist, legte ich mich neben sie und schaute sie einfach nur an.
Ich musterte ihr Gesicht, zeichnete dessen Züge mit meinen Augen nach, wie ich es immer gerne mit meinen Fingern getan hatte, betrachtete ihre blass roten Lippen, die so weich wie ihre Haut waren und einen denken ließen, sie gehören einem Engel.
Es kam nur selten vor, dass mir solche … Vergleiche in den Sinn kamen. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass ich dieser Frau zum ersten Mal seit unserer Trennung wieder so nahe gewesen bin.
Wie lange ich sie anschaute wusste ich nicht, es war mir auch offen gestanden völlig egal, auch wenn bei ihrem Anblick immerzu daran denken musste, wie unsere Beziehung während meines Krankenhausaufenthaltes zu Ende gegangen war.

Ich seufzte und wandte den Blick kurz ab, betrübt über diese Gedanken, wo der Morgen doch so gut begonnen hatte und obwohl ich mich seitdem nicht mehr besonders durch meine Gefühle beeinflussen ließ.
Aber vielleicht lag es auch einfach an ihr – ihrem Charakter, ihrer Art, der Mensch, der sie war. Ich seufzte und schob die Gedanken beiseite, als sie langsam die Augen öffnete und mir ihre bernsteinfarbenen Augen entgegen funkelten. Mit einem Lächeln hieß ich sie willkommen, welches sie erwiderte und dabei das Gefühl vermittelte, als würde mit ihrem warmen, zärtlichen Lächeln die Sonne aufgehen.

„Hey, Cass.“

„Habe ich dich geweckt?“

„Nein, hast du nicht.“, erwiderte sie mit dieser sanften Stimme, die unterschwellig verlauten ließ, wie sehr sie diesen Moment genoss und hoffte, ihn noch eine Zeit lang genießen zu können, ehe er zu Ende wäre. Mit einem etwas irritierten Blick bedachte sie meinen Körper und bemerkte, dass ich bereits angezogen war.

„Du bist schon angezogen?“ Ich lächelte angesichts dessen, dass sie aufgrund der Erschöpfung und des vielen Alkohols ein wenig brauchen würde, um sich wieder an den gestrigen Abend zu erinnern, an dem wir wegen des ganzen Theaters in dem Lokal einfach nur noch ins Bett wollten. Behutsam strich ich ihr einige wenige Strähnen aus dem Gesicht.

„Wir haben die Sachen gestern gar nicht erst ausgezogen.“, erwiderte ich. Sie seufzte ein wenig enttäuscht.

„Ich hatte gehofft, dass der gestrigen Abend anders verlaufen würde.“ Wie bereits bei ihrer gestrigen Einladung in der Gerichtsmedizin ahnte ich, worauf sie damit anspielte. Es hätte sicherlich auch funktioniert, wäre da nicht dieser Typ gewesen, dem ich im Nachhinein doch lieber eins auf die Fresse gegeben hätte als ihm nur zu drohen.

„Beim nächsten Mal klappt es bestimmt.“, meinte ich zu ihr und auch wenn ich mir nicht sicher war, dass es auch wirklich so kommen würde, hatte sie zumindest wieder eine gewisse Hoffnung. Langsam setzte sie sich auf und rieb sich die Müdigkeit aus ihren Augen. „Wie spät haben wir es eigentlich?“

„Kurz vor neun.“

„Wirklich?“, erwiderte sie ein wenig verschlafen. „Fuck, ich muss um elf in der Gerichtsmedizin sein, um Joshua zu vertreten.“ Sie seufzte. „Wenigstens muss er dieses Mal die Fortbildung über sich ergehen lassen.“ Ich erhob mich und lächelte.

„Möchtest du einen Kaffee?“

„Du hast noch etwas?“ Ich nickte. „Oh ja, bitte.“

„Wir sehen uns dann unten.“ Mit diesen Worten verließ ich das Schlafzimmer.

Während ich darauf wartete, dass der Mixer die reiche Auswahl verschiedener Obstsorten zu einem zähflüssigen Gemisch gehäckselt hatte, goss ich den frisch aufgebrühten Kaffee in die beiden Thermobecher, damit wir diese mitnehmen konnten, sollte es uns nicht gelingen diese zu leeren, bevor wir fahren müssten. Obwohl wir beide kaum Kaffee tranken, war dieser etwas Besonderes – angefangen bei der Pflanze über die Bohne bis hin zur Verarbeitung und dem damit einzigartigen Geschmack. Vier Mal im Jahr erhielt ich zwei Dosen von einem befreundeten Kaffeebauern, nachdem ich ihn bei einem Betrugsversuch damals geholfen hatte. Aber würde ich demnächst auch Tee von ihm bekommen, was Doktor Layhne ebenso erfreute wie mich.

Als ich damit beschäftigt war den Smoothie ebenfalls ins tragbare Behälter zu geben und mit einem Crunch-Mix zu toppen, hörte ich, wie sie die Treppe herunter kam.
Das wilde Haar war glatt und streng nach hinten gekämmt worden, wo es von einer Spange in Form gehalten wurde. Die Knöpfe der Bluse, die ich ihr gestern geöffnet hatte, waren wieder verschlossen und die Brille thronte wieder auf der Nase, was ihr eine gewisse Autorität verlieh.

Sie begab sich zur Kücheninsel und setzte sich auf einen der Barhocker.

Sofort schob ich ihr den heißen Kaffee zu, von dem sie einen Schluck nahm und den leicht bittersüßen, kakaohaltigen Geschmack der Kaffeesorte auf der Zunge genoss, bevor sie den Becher wieder absetzte ihr ein Laut des Genusses entfuhr.

„Genau das Richtige.“, meinte sie mit einer leidenschaftlichen, dominanten Stimme, mit der sie mir das Gefühl vermittelte, als sei sie die Hausherrin und ich das Dienstmädchen. Mit einem Lächeln, das sich auf ihren Lippen zeigte, wusste sie, dass es genau das war, woran ich denken sollte und erwiderte es, da es mich an früher erinnerte.
Aber fasste ich mich dennoch wieder.

„Ich hoffe du hast nichts dagegen, dass ich dir Frühstück gemacht habe.“, erwiderte ich und schob ihr die fertige Bowl samt Löffel zu. Sie betrachtete sie kurz, als sie mich mit einem Schmunzeln betrachtete.

„Du weißt es noch.“

„Warum sollte ich es nicht?“

„Nun … ja, nach dem …“ Sie unterbrach sich und auch ich hielt einen Moment inne, als ich an den Schuss und die Kugel dachte, durch die ich noch immer einige Schwierigkeiten hatte mich an gewisse Ereignisse erinnern zu können. „Entschuldige.“

„Schon gut.“, versicherte ich ihr beschwichtigend und setzte mich zu ihr an die kleine Kücheninsel. Ich sah ihr an, dass sie trotz ihres Aussehens, welches von der Autorität einem passenden Unteroffizier des Superintendent gleichen würde, ein wenig offener, vor allem aber schüchterner war.

„Ich fand den Abend gestern trotz des kleinen Zwischenfalls sehr schön.“

„Ich weiß, was du meinst.“ Ich verspürte einen leichten Anstieg meiner Herzfrequenz und die aufsteigende Nervosität in mir. Es kam mir so vor, als ob ich nicht zu einer guten Freundin, sondern vielmehr zu meinem geheimen Schwarm sprechen würde, es aber bisher nicht gewagt hatte diesen anzusprechen und mich nun dazu zwang. Ich fühlte mich in diesem Moment genau so wie Doktor Layhne gestern in der Bar und musste innerlich über diese gewisse Gemeinsamkeit lächeln.

„Denkst … denkst du, dass wir es vielleicht noch einmal versuchen sollten?“ Ihre Frage, auf die ich eigentlich die ganze Zeit über gehofft hatte, überraschte mich zugegebenermaßen auch und obwohl ich darauf vorbereitet gewesen bin, wusste ich in diesem Moment nicht, was ich darauf erwidern sollte.
Vielleicht war es die Unsicherheit.
Vielleicht auch die Nervosität.
Oder auch die Vorstellung daran, dass es wieder so weit kommen könnte wie letztes Mal.

„Ich … ich weiß es nicht.“, erwiderte ich, als ob ich versuchen wollte nichts falsches zu sagen, dass sie kränken würde. „Normalerweise würde ich sofort ja sagen, aber … nach dem, was alles passiert ist, bin ich mir nicht sicher, ob es besser wäre es nicht zu tun. Für dich, verstehst du?“ Sie ergriff meine Hand und sah mir mit einem ruhigen, sanften Blick in die Augen.

„Dann lass uns zumindest wieder gemeinsam etwas mehr Zeit verbringen. Als Freunde und schauen, wie es sich entwickelt.“ Ein Lächeln zeigte sich auf meinen Lippen.

„Das würde mich freuen.“

 

Wenige Minuten später befanden wir uns auf dem Weg zur Gerichtsmedizin.
Die Fahrt verlief ruhig, wenn auch wieder etwas distanzierter als noch vorhin am Küchentisch. Aber wussten wir beide, dass wir diese Fassade aufrecht erhalten mussten, wenn wir nicht wollten, dass die Kollegen davon erfuhren.

„Naomis Eltern haben mich gestern angerufen, nachdem der Superintendent sie über die Ermordung ihrer Tochter in Kenntnis gesetzt hatte.“, wandte sie sich ein wenig betrübt an mich, um damit auszudrücken, wie schwer ihr das Telefonat gefallen war.

„Wenigstens ihre Eltern haben sich gemeldet.“, meinte ich ebenso betrübt, wenn auch mit einem erneuten Anflug von Wut als ich an das Telefonat mit Claires Eltern zurück dachte und wie ihre Ermordung sie als auch die übrigen Studenten völlig kalt gelassen hatte.
Ich seufzte.

„Was muss nur passiert sein, dass es den eigenen Eltern vollkommen egal ist, dass ihre einzige Tochter Opfer einer solchen Tat geworden ist?“

„Dasselbe frage ich mich, wann immer ich das Gelände der Universität betrete.“, erwiderte ich ein wenig kalt. „Wann werden sie hier sein?“

„In einigen Tagen.“ Sie seufzte. „Ich hoffe nur, dass es nicht noch mehr Opfer werden.“ Auch wenn ich ihre Hoffnung teilte, so sagte ich mir, dass dies nun an mir lag.
Und obwohl ich alles daran setzen würde zu versuchen dieses Versprechen einzuhalten, würde es vermutlich nicht genug sein, wenn es mir nicht gelingen würde dem Täter zwei anstelle eines Schrittes voraus zu sein.

Wir erreichten das Gebäude der Gerichtsmedizin, vor dessen Haupteingang ich den Wagen anhielt und mich an Doktor Layhne wandte.

„Nochmals Danke für deine Hilfe gestern. Und … auch für das vertraute Gespräch.“, bedankte sie sich. „Und natürlich für das Frühstück.“

„Ging mir genauso.“ Sie atmete kurz durch, während ihre Hand nach dem Türgriff fasste, um diesen zu öffnen und auszusteigen.

„Rufst du mich an, wenn du dich entschieden hast?“

„Das mach ich.“ Sie schenkte mir ein Lächeln. „Hab einen ruhigen Tag.“

Sie beugte sich zu mir und gab mir einen liebevollen Kuss auf die Lippen, wobei ich ein angenehmes Kribbeln in meinem Bauch verspürte und mich gleichzeitig dabei zügeln musste dem Drang nachzugeben diesen Moment in die Länge zu ziehen. Schließlich entfernte sie sich von mir, öffnete die Tür und stieg aus. Eine kurze Zeit lang sah ich ihr noch hinterher, ehe ich den Motor startete und weiter zur Wache fuhr.

 

Mit einem sonderbaren, wohltuenden Gefühl, welches mir neue Energie zu geben schien, betrat ich das Präsidium. Ich machte mich umgehend auf den Weg zum Büro des Superintendent, wobei das Gefühl jedoch langsam der Realität wich, bis es vollends verschwunden war als ich vor der entsprechenden Tür stand. Die auf Augenhöhe befindliche Aufschrift auf dem weiß getrübten Fenster teilte mir unmissverständlich und mehr als deutlich mit, wessen Büro ich im Begriff war zu betreten. Ich atmete kurz durch, um mich mental auf das vor mir liegende Gespräch vorzubereiten, selbst wenn es sich um eine harmlose Besprechung handeln sollte.

Auch wenn ich den Superintendent seit langem kannte ist es dennoch ein Gefühl, dass ich irgendeinen Fehler begangen hätte wann immer ich vor seiner Tür stand. Da ich dem Gespräch allerdings ohnehin nicht entkommen konnte, fasste ich mich, hob die Hand und klopfte mit den Knöcheln meiner Finger gegen das massive Holz des Türrahmens.
Ein Moment der Stille verging.

„Treten Sie ein.“, hörte ich schließlich die befehlsähnliche Aufforderung durch die Tür. Ich öffnete sie, trat ein, schloss sie hinter mir und trat zu seinem Schreibtisch, vor dem ich Haltung annahm, wenn auch ohne dabei zu salutieren, obwohl mich immerzu etwas dazu drang.
Mein Blick richtete sich auf den Vorgesetzten.
Mit einer straffen, aufrechten Haltung saß er leicht über den Schreibtisch gebeugt in seinem Stuhl und ging einige Unterlagen durch, ohne mich dabei auch nur eines Blickes zu würdigen, was nie ein gutes Zeichen bedeutete.

„Sie wollten etwas besprechen, Sir?“ Ich beobachtete ihn dabei, wie er den Blick von den Papieren abwandte, zu mir hoch schaute und dabei nach einem Umschlag griff, den er mir wortlos überreichte. Das er mir dabei aber in die Augen gesehen hatte war ein wenig beruhigend. „Was ist das?“

„Diesen Brief fand ich heute Morgen fein säuberlich auf deinem Tisch deponiert.“, berichtete er ruhig. Etwas zögerlich nahm ich ihn entgegen und betrachtete ihn, aber bis auf meinen Namen, den jemand mit einer Schreibmaschine darauf getippt hatte, gab es keinerlei Anzeichen eines Absenders oder anderer Hinweise, die auf diesen deuteten.

„Hat jemand …?“

„Du weißt doch,“, unterbrach er mich und erhob sich dabei aus seinem Stuhl. „dass es kaum einen der anderen Kollegen kümmert, was sich auf deinem Tisch befindet.“ Damit hatte er recht, denn wer würde meinem Schreibtisch, welcher sich Abseits von allen anderen stand, schon Beachtung schenken?

Ich überlegte einen Moment, als ich den Brief schließlich umdrehte, ihn öffnete und den darin enthaltenden Notizzettel hervor holte. Ebenso wie der Umschlag war auch dieser mithilfe einer Schreibmaschine betippt worden, um somit eine Schriftanalyse vorzubeugen und auch keinen digitalen Abgleich des möglichen Druckers bestimmen zu können.

Das Einzige, was sich auf dem Papier befand, war das Datum von übermorgen, eine Uhrzeit von 22 Uhr abends, sowie der Name einer Straße, als auch Distriktes.
Ich brauchte nicht lange um zu verstehen, was dieser Brief zu bedeuten hatte.

Das also war seine Gegenleistung dafür, dass ich seiner Bitte nachgekommen bin – er teilte mir mit, wann und wo er das nächste Mal töten wird.

Auch wenn ich gewisse Zweifel daran hatte, dass er sich sowohl an das angegebene Datum und Zeit halten würde, war mir, als ob er mir tatsächlich damit beweisen wollte, dass er die Wahrheit sagte.
Dennoch war dieser Vertrauensbeweis mit Misstrauen zu betrachten, denn durch die ledigliche Zeit- und Ortsangabe besaßen beide Daten viele Interpretationsmöglichkeiten.

„Irgendetwas beunruhigendes?“, erkundigte sich der Superintendent ruhig, nachdem er mir einen Moment gelassen hatte das Dokument zu inspizieren.

„Es ist lediglich eine Annahme, Sir, aber ich denke, der Mörder will mir sagen, dass er in zwei Tagen wieder töten wird.“, erklärte ich und reichte ihm den Zettel. Er betrachtete das Datum als auch die angegebene Adresse einen Moment lang, als er ohne eine Änderung seiner gewohnten Miene wieder zu mir sah.

„Leefordstreet. Whitewood District.“ Mit einem nun mehr misstrauischem Blick schaute er wieder zu mir, wobei man ihm ansehen konnte, dass er gewisse Zweifel an der Echt- und Glaubwürdigkeit dieser Notiz besaß. „Weder haben wir hier eine solche Straße noch einen Distrikt. Bist du dir sicher, dass dies vom Täter stammen könnte und nicht vielleicht doch von jemandem, der dich hier verarschen will? Zutrauen würde ich es manchen der Kollegen zumindest.“

„Aber würden die sich dann die Mühe machen, alles mithilfe einer Schreibmaschine zu tippen?“

„Die Schriftart kann sich jeder aus dem Internet runterladen.“, erwiderte er, um mich darauf aufmerksam zu machen – Nicht weil er davon überzeugt war, dass dies wirklich nur eine Art Scherz sein sollte, sondern um mich daran zu erinnern, dass man jedwede Möglichkeit in Betracht ziehen muss, bevor man sich seiner Annahme sicher sein sollte. „Wie also kannst du sicher sein, dass es sich tatsächlich um eine richtige Schreibmaschine handelt?“

„Sehen Sie genau hin.“ Er tat, wie ihm geheißen wurde. „Wenn Sie die Buchstaben genauer betrachten, können sie eine leichte Vertiefung erkennen, ebenso die fransigen Kanten, die bei einem Drucker nicht auftreten dürfen. Und dann die kleinen Schmierer der feuchten Tinte.“ Ich gab ihm einen Moment, in dem er die Buchstaben genauer betrachtete, als er seufzte und es sich sogar gestattete zu lächeln, was bedeutete, dass er meiner Beobachtung zustimmte.

„Du hast recht.“ Er schaute wieder zu mir und gab mir den Zettel zurück. „Auch wenn ein gewisser Unsicherheitsfaktor bleibt, sollten wir diesen Hinweis nicht außer Acht lassen. Die Frage ist nur, abgesehen davon, wie er auf deinen Schreibtisch landen konnte, ohne dass irgendeiner etwas davon mitbekommen hat, beziehungsweise warum der Täter mit dir Kontakt aufgenommen hat, was mit der Adresse gemeint ist.“

„Ich bemühe mich, das herauszufinden.“, erklärte ich ihm, obwohl mir dieses Mal die Antwort bereits bekannt gewesen ist. Dennoch vermied ich es weiterhin ihm oder einer anderen Person etwas davon zu erzählen.

„Gut. Und wenn der Täter sich an diese Daten hält, haben wir keine Zeit zu verlieren. Nicht nur um ein weiteres mögliches Opfer zu beschützen, sondern auch um eine Panik zu vermeiden.“

Etwas in mir drängte mich dazu darauf zu erwidern, dass es aufgrund der scheinbaren Nichtigkeit, was Claires Tod im Verhältnis zu ihrer Familie und den anderen Studenten betraf, zwei weitere Opfer benötigte, damit an der Universität eine Panik wegen eines möglichen Serientäters ausbrechen würde.
Ich unterließ es, nicht nur weil mich diese Vorstellung selbst ankotzte, dass jedwedes andere mögliche Opfer mehr Aufmerksamkeit bekam als Claire, sondern auch weil es der Superintendent genauso empfinden würde, welcher selbst eine Tochter in ihrem Alter besaß.
Wie ein Soldat, der auf neue Befehle wartete, blieb ich weiterhin ruhig vor dem Schreibtisch des Vorgesetzten stehen und beobachtete ihn, wie er einen Moment lang nachdachte. „Was ist mit dem Notizbuch?“

„Ich bin noch dran, Sir, und werde einen Zahn zulegen.“

„Gut, tu das. Ach, eines noch.“

„Sir?“

„Herr Kojima. Er bat mich dir zu sagen, dass die nächsten beiden Termine aufgrund einer kurzfristigen Dienstreise ausfallen. Um entsprechende Ersatztermine wird er sich kümmern.“

„Verstehe.“

„Und bevor du fragst: Er gehört nicht zu den Verdächtigen, da er sich zum Tatzeitpunkt auf einer zweitätigen Konferenz in London aufhielt.“ Es klopfte an der Tür, als Jarvis ohne ein Wort der Aufforderung mit einer Akte eintrat. „Das wäre dann alles, Sergeant. Und jetzt schaffen Sie Ihren Arsch gefälligst aus meinem Büro und gehen wieder an die Arbeit.“

„Sir.“ Gehorchend machte ich auf dem Absatz kehrt, warf Jarvis einen missbilligenden Blick zu und verließ das Büro, bevor ich mich an meinen Schreibtisch setzte, den Notizzettel gut sichtbar vor mir ablegte und mir die Daten durch den Kopf gehen ließ.

Wenn es stimmte, was auf dem Zettel stand, würde er den nächsten Mord nicht hier, sondern in seiner Welt begehen. Aber konnte die Adresse auch nur eine Finte sein und der Mord würde in meiner Welt stattfinden, während ich mich in seiner aufhalten würde und somit keine Chance hätte den Mord zu vereiteln.

Leichte Kopfschmerzen fraßen sich durch meinen Kopf, weshalb ich davon abließ, die Schublade aufschloss und dort weiter machte, wo ich gestern aufgehört hatte.

Noch einmal las ich mir die beiden letzten Sätze des Prologs durch, bevor ich mich daran setzte weitere Seiten des ersten Kapitels zu decodieren. Anschließend las ich sie mir in Ruhe durch, während ich mir dabei Notizen machte, die mir nützlich erschienen oder noch im weiteren Verlauf sein könnten. Als ich die ersten zehn bis fünfzehn Seiten ungehindert durchlesen konnte, verspürte ich jedoch bereits nach den ersten sieben Seiten ein unangenehmes Gefühl der Angst, als ich aus der Perspektive der scheinbaren Protagonistin dieselbe Erzählung eines Traumes las, die meiner glich.

Ein wenig angespannt und beunruhigt, auch wenn ich alles daran setzte mir diese nicht anmerken zu lassen, las ich weiter, wobei sich mir mit jeder neuen Zeile ein Verdacht aufdrängte. Dieser verstärkte sich, als er mir wie eine metaphorische Kugel mit einem realen physischen Schmerz durch den Kopf schoss, als ich an der Stelle ankam, an der ein Kollege der Protagonistin vor ihrer Tür stand und vermeldete, sie müsse ihn wegen eines Mordes begleiten.

Ich drückte meine Hand gegen die Schläfe, um den Schmerzen daran zu hindern sich weiter auszubreiten. Ich atmete kurz durch und wartete, bis der Schmerz nachgelassen hatte, bevor ich mich wieder auf das Manuskript vor mir konzentrierte. Aber begriff ich nun, warum der Täter nach diesem Buch gesucht hatte, warum es ihm so wichtig gewesen war es zu finden und mich sogar beglückwünschte als ich es vor ihm gefunden hatte.

Aber konnte es wirklich einen Zusammenhang geben?
Oder handelte es sich dabei nur um einen dummen Zufall?
Nein, nicht in diesem Fall.
Dafür gab es zu viele Parallelen, zu viele Gemeinsamkeiten als das es ein Zufall sein konnte.

Ich überlegte, was ich jetzt tun sollte und auch, was jede einzelne meiner Optionen für mich bedeutete, obwohl viele dieser Möglichkeiten dasselbe Ergebnis zur Folge hätten. Unauffällig wanderte mein prüfender und auf jedes Detail achtende Blick durch das Büro, beobachtete die Kollegen, die ihrer Arbeit nach gingen und weder mir noch meinem Tisch auch nur einen kurzen verstohlenen Blick würdigten.
In diesem Augenblick war ich zugegebenermaßen sogar erleichtert darüber, dass ich diesen … besonderen Ruf unter den meisten meiner Kollegen genoss. Dennoch hatte ich einige Zweifel an meinem weiteren möglichen Vorgehen. Aber wäre es vermutlich die einzige Möglichkeit, selbst wenn es bedeuten würde gegen die Vorschriften zu verstoßen und damit ein weiteres Disziplinarverfahren gegen mich in die Wege zu leiten. Und dieses Mal würde es vermutlich eher zu meiner Kündigung und im schlimmsten Fall zu einer strafrechtlichen Verfolgung kommen.

Aber angesichts der Situation gab es keinen anderen Weg.
Ich nahm mir mein Handy und wählte Sillas Nummer, die ich mir bei der Befragung von ihm und allen anderen hatte geben lassen, um sie im Falle der weiteren Ermittlungen jederzeit erreichen zu können. Es dauerte nicht einmal wenige Sekunden als er den Anruf annahm, was bedeutete, dass ich ihn außerhalb der Vorlesung erreicht hatte.

Sillas.“, meldete er sich ruhig und aufmerksam.

„Sergeant Winter hier. Ich hoffe ich störe dich nicht.“ Auch wenn es aufgrund einer polizeilichen Ermittlung keinen Anlass gab so höflich zu sein, wollte ich ihm jedoch auf einer vertrauenswürdigen Ebene begegne. Nur so konnte es mir möglich sein entsprechende Informationen zu erhalten, ohne ihn mit kalter und emotionsloser Stimme nervös zu machen und sich in irgendeiner Art schuldig zu fühlen.

Sie stören nicht. Gibt es etwas Neues in Claires und … Naomis Fall?“, fragte er vorsichtig als auch betrübt und mitfühlend.

„Wo kann ich dich antreffen?“, fragte ich ihn direkt, ohne auch nur eine Sekunde der wenig zur Verfügung stehenden Zeit bis zum nächsten Mord zu verlieren und ignorierte daher seine Frage.

Hier im Studentenwohnheim.“, erwiderte er ein wenig verwirrt. „Zimmer Zwei-Eins-Sechs.“

„Ich bin in dreißig Minuten da.“

Alles klar, wie Sie meinen.“ Ich legte auf und dachte erneut über meine Entscheidung nach, als ich schließlich nach dem Buch und meinen Notizen griff, sie in meine Tasche packte, den Rest in meiner Schublade verschloss und mich abmeldete.

 

Während ich mich zum Studentenwohnheim aufmachte, in dem Sillas wohnte, richteten sich genau wie das letzte Mal im Vorlesungssaal abermals die Blicke der Studenten auf mich. Nur dieses Mal waren es nicht Verwunderung und Interesse, sondern vielmehr die fragenden und tuschelnden Blicken leichter Abneigung und Angst. Es war als ob meine Anwesenheit die Befürchtung in ihnen weckte, dass jederzeit jemand weiteres von ihnen getötet werden könnte. Dabei konnte ich immer wieder mit anhören, wie man über Naomi sprach, dass ich sie gefunden hätte und in meinen Armen gestorben war, Mitleid ihr gegenüber aussprach angesichts des Leids, welches sie in den wenigen letzten Stunden ihres Lebens wohl durchgemacht haben mochte und derlei Dinge. In all den Gesprächen und dem Getuschel ging es aber immerzu nur um sie, ohne auch nur ein einziges Mal Claire zu erwähnen, die, auch wenn sie es nicht wussten, auf weit grausamere Art und Weise sterben musste als ihre Freundin. Und selbst wenn sie von Claires Leid gewusst hätten, hätte es vermutlich nichts an ihrer Haltung Claire gegenüber geändert, als ob es keinerlei Relevanz oder jedwedes Interesse hätte. Es war, als ob man sie einfach aus ihrem Gedächtnis gelöscht hätte.
Als hätte es sie nie gegeben.

Ich ignorierte alles um mich herum, so wie ich es auch im Büro tat, betrat das Wohnheim und erkundigte mich, wo ich Sillas Zimmer mit der Nummer Zweihundertsechszehn finden könnte. Mein Weg führte mich in den zweiten Stock, in welchem ich vor der entsprechenden Tür stehen blieb, zwei Mal dagegen klopfte. Während ich wartete, konnte ich abermals die durchdringenden Blicke der wenigen Studenten um mich herum deutlich spüren, wie sie um die Ecke oder aus ihren Zimmern spähten und miteinander tuschelten, was mein erneuter Besuch wohl zu bedeuten hätte.

Schritte näherten sich der Tür, als sie sich schließlich öffnete.
Zu meiner leichten Überraschung war es nicht Sillas, sondern Anna, die sich im Türrahmen zeigte.

„Sergeant Winter.“

„Anna.“

„Sillas sagte bereits, dass Sie kommen. Bitte, kommen Sie doch rein.“, bat sie höflich, trat zur Seite und ließ mich eintreten, bevor sie die Tür wieder schloss.

Ich nutzte die kurze Gelegenheit und schaute mich in dem Zimmer um, das im Grunde wie jedes andere eingerichtet war, wenn auch mehr mit Dark-Fantasy Deko, Postern, Figuren sogar den einen oder anderen künstlichen Schädel verschiedener Vertreter des Fantasy-Genre fanden sich fein säuberlich angeordnet, als handle es sich dabei um tatsächliche Trophäen.
In den vergangenen Jahren hatte ich gelernt, dass allein schon ein Zimmer ausreichte, um einiges über den jeweiligen Bewohner auszusagen. Obwohl mir der Professor bereits sagte, dass Sillas dem Horrorgenre zugewandt sei, hätte ich dennoch etwas anderes erwartet, aber wie Naomi bereits sagte ist Horror nicht gleich Horror.

„Nicht, was Sie erwartet haben, oder?“ Ich schmunzelte ein wenig über die interessante, wenn auch vielleicht makabre Einrichtung. Sie hob sich ebenso wie Claires, auch wenn diese mehr zweckmäßig ausgerichtet war, von den gewöhnlichen Studentenzimmern ab, besaß aber durchaus seinen Charme besaß und lud dazu ein zu bleiben.

„Nein, nicht wirklich. Aber kenne ich das Leben an der Universität nicht, weshalb ich mir darüber kein Urteil erlauben kann.“ Sie lächelte.

„Sillas ist im Nebenraum.“, erklärte sie mir und forderte mich damit auf, ihr ins angrenzende Zimmer zu folgen. Anders als im ersten, in welchem sich das Schlafzimmer befand, fanden sich im Nebenraum zwei nebeneinander stehende Schreibtische, deren Platten überschwemmt waren mit Papieren, Büchern und allerhand Schreibutensilien, zwischen denen der Laptop oder der Computerbildschirm Schwierigkeiten hatten in dem Meer aus Papier über Wasser halten zu können. Aufgrund der Tatsache, dass der Rest der kleinen Wohnung genauso wie bei Claire aufgeräumt war ließ mich vermuten, dass sie sich inmitten der Hausarbeiten- oder Prüfungsphase befanden.

Gegenüber der beiden Tische fanden sich drei Regale, welche wie in einer Bibliothek oder einem Archiv nebeneinander angeordnet waren und die verschiedensten Büchern aller Dicken, Größen und Themen beherbergten – eine weitere Gemeinsamkeit mit Claires Zimmer. Schließlich entdeckte ich Sillas, der mit einem Buch zwischen den Regalen hervor trat.

„Sergeant.“, begrüßte er mich, als ich ein Krähen hörte und instinktiv auf das Regal hinter ihm schaute, wo ich einen Raben ausmachen konnte, der dort auf dem obersten Regal stand und auf sich aufmerksam machte. Sillas drehte sich zu dem Vogel um und reichte ihm eine Nuss, die er genüsslich aß.

„Offenbar hat Salem ein neues Zuhause gefunden.“, merkte ich an.

„Oh, das ist nicht Salem.“, widersprach mir Anna ruhig. „Das ist Saraya, auch ein Rabe aus Salems kleiner Gruppe, die Claire immerzu begleitet hat.“ Es überraschte mich schon ein wenig, dass Claire nicht die Einzige war, die sich ein solches Tier hielt, aber angesichts der Einrichtung wunderte es mich auch nicht besonders. „Ich denke ich lasse euch dann allein.“, meinte sie und wandte sich zum Gehen.

„Es ist wohl besser, wenn du an unserem Gespräch teilnimmst.“, erwiderte ich.

„Wie Sie wollen.“ Sie bot mir einen Platz auf einem der Sitzsäcke an, die sich um einen kleinen Tisch verteilten, auf dem sich eine Art Spielmatte mit einigen Notizzetteln und verschiedene Würfel fanden.

„Mein Beileid für den Verlust eurer Freundin.“, sagte ich so mitfühlend, wie es mir möglich war, ohne dabei zu emotional zu werden als ich mich an die Szenerie in ihrem Zimmern erinnerte, die ich hätte verhindern können.

„Danke, Sergeant.“

„Es heißt, Sie … hat noch gelebt, als Sie sie gefunden haben?“ Annas Stimme zitterte beim stellen ihrer Frage ein wenig.

„Ja.“, antwortete ich betrübt. „Ich wünschte nur, ich wäre früher dort gewesen. Vielleicht hätte man ihr dann noch helfen können.“ Erneut machte ich mir Vorwürfe und gab mir zu einem gewissen Teil die Schuld an dem, was passiert war. Selbst wenn ich es früher in Erfahrung gebracht hätte, hätte ich es denn verhindern können?
Vermutlich nicht und das schien er gewusst zu haben, ansonsten hätte er sie bereits früher getötet.

„Wenigstens waren Sie bei ihr.“ Es war tröstlich, dass er das zu mir sagte und musste ihm recht geben, wobei ich daran denken musste, dass Claire dieses Glück bedauerlicherweise nicht gehabt hatte.

„Denken Sie, dass wir die nächsten sein könnten?“, erkundigte sich Anna ein wenig zurückhaltend, wobei mich ihre Frage ein wenig verwunderte.

„Wie kommst du darauf?“ Sie schwieg.

„Vermutlich weil wir ebenso wie Naomi Freunde von Claire sind.“, antwortete Sillas für sie. „Aber warum sollte es jemand auf Claire oder uns abgesehen haben?“

Ich hätte die Frage stellen können, die ich auch schon Naomi und Kya gestellt hatte, dass Claire vermutlich etwas Belastendes besessen hatte und sie vermutlich deshalb getötet worden ist, aber wenn schon diese beiden nichts über solche Dinge wussten, würden es diese beiden auch nicht, zumal diese Frage ohnehin ohne Bedeutung gewesen wäre.

„Wir wissen es nicht, aber werde ich veranlassen, dass ihr Personenschutz bekommt. Wohnt ihr beide hier?“

„Ja. Sillas Mitbewohner hat die Uni gewechselt und da konnte ich nach einem Gespräch mit der Direktorin bei ihm einziehen. Normalerweise ist so etwas nämlich nicht gestattet.“ Ich lächelte ein wenig, denn hatten sich die beiden scheinbar wirklich gefunden, auch wenn es zunächst nicht so wirkte.

„Wie … können wir Ihnen helfen?“, lenkte Sillas das Gespräch wieder auf das Wesentliche.

„In einem geheimen Versteck fanden wir sowohl Claires Abschlussarbeit als auch dieses Notizbuch.“, erklärte ich und legte das Notizbuch auf den Tisch. „Könnt ihr mir irgendetwas darüber erzählen?“ Die beiden schauten sich kurz an, während ich sie dabei beobachtete, aber keine Anzeichen dafür finden konnte, dass sie eine geheime Absprache führten.

„Nein, leider nicht. Aber muss es Claire sehr wichtig gewesen sein, wenn sie es versteckt hat.“

„In diesem Buch befindet sich der codierte Text einer Horrorgeschichte, an der sie gearbeitet hatte. Was wir bereits entziffern konnten stimmt mit den bisherigen Ereignissen überein, wenn auch mit einigen Abweichungen.“

„Sie denken, jemand … stellt diese Geschichte nach?“, fasste Anna meine Erklärung zusammen.

„Gibt es jemanden, der von dieser Geschichte Kenntnisse hat und der weiß, wie er diesen Code entschlüsseln kann?“ Beide verneinten die Frage.

„Wenn es um ihre Arbeiten ging war Claire wegen der Geschichte in ihrer Schule damals sehr verschlossen. Aber zumindest erklärt es, warum sie bei uns gewesen ist.“, meinte Sillas nachdenklich.

„Kannst du mir das erklären?“, erkundigte ich mich.

„Vor etwa fünf oder sechs Wochen hatte Claire, nachdem wir sie gefragt hatten, an einem kleinen Rollenspiel teilgenommen, an dem wir arbeiten. Dabei hatte sie uns während einer kleinen Pause gefragt, ob wir ihr aufgrund unseres Wissen, wie sie es sagte, bei einigen Recherchen für eine Arbeit helfen könnten. Wir dachten allerdings, dass es sich dabei um ihre Abschlussarbeit handelte.“

„Könnt ihr euch noch daran erinnern, worum es in dem Gespräch ging?“

„Es ging um moderne Horrorgeschichten und Figuren.“

„Creepypastas.“

„Ja. Sie wollte wissen, was man alles bei der Erstellung und weiteren Entwicklung beider Dinge beachten sollte.“, erklärte er mir.

„Euer Professor verwies mich in unserem Gespräch auf dich, da er mir sagte, dass du dich in dem Bereich des Horrors besser auskennst, auch wenn du seiner Meinung nach noch am Anfang stehst.“

„Na ja, eigentlich wir beide, wenn auch in verschiedenen Bereichen.“, merkte er an und machte mich darauf aufmerksam, dass sich Anna ebenso wie er diesem Genre verschrieben hatten.

„Über was genau hatte sie mit jedem von euch beiden gesprochen?“ Wieder schauten sich die beiden kurz an. Ihren Reaktionen nach zu urteilen ahnten sie, dass ich diese Fragen bewusst stellte, da ich einem Verdacht nach ging und nicht bloß versuchte sie davon abzuhalten sich nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen zu erkundigen.

„Sie hatte mich nach den Merkmalen gefragt, die eine Creepypasta wie zum Beispiel den Slenderman, Sirenhead oder auch den Cthulhu zu einer urbanen Legende werden lassen. Also als ob es diese Figuren tatsächlich gibt oder zumindest deren Existenz weder bewiesen, noch wiederlegt werden kann.“ Ich schaute zu Anna.

„Mich hatte sie nach der Subkultur des Steampunks und des Gothics erkundigt, speziell die gesellschaftlichen und politischen Einteilungen und Verbindung, Bräuchen und all das.“

„Also nach der Bevölkerung und deren Stände innerhalb einer Stadt?“ Sie nickte.

„Sehen Sie darin irgendeine Verbindung?“

„Es ist derzeitig lediglich ein Verdacht, dem ich folge, aber werde ich euch auf dem Laufenden halten, sollte sich etwas ergeben.“, erwiderte ich und rückte das Gespräch wieder auf das eigentliche Thema. „Soweit ich weiß ist der Steampunk eine fiktive Zeit, die an das viktorianische Zeitalter und der modernen industriellen Revolution zwischen dem 19. Und 20. Jahrhundert angelehnt ist.“

„Das ist richtig. Der Steampunk ist dabei aber nur eine Richtung und stellt eher die romantisierte Seite der modernen industriellen Revolution dar, was sich aber leicht ändern lässt. Daneben gibt es noch den Elektro- und Dieselpunk, aber ist der Steampunk durchaus beliebter und vielfältiger.“

„Über die Gothicszene weiß ich leider nicht besonders viel, lediglich, dass hierbei viel schwarz getragen wird und recht düster ist.“

„Die schwarze Szene, wie sie auch genannt wird, ist tatsächlich ein sehr umfassendes und komplexes Themengebiet, das sich durch verschiedene Merkmale und Richtungen auszeichnet. Bis auf die Farbe Schwarz verfolgt sie keinen einheitlichen Stil wie etwa beim Steampunk und bietet daher ein umfangreiches Anwendungsgebiet. Claire allerdings hatte sich nach dessen in Richtung des Steampunk bewegende Ausrichtung erkundigt.“

„Kannst du mir das näher erklären?“

„Einer der Kleidungs- aber auch der Lebensstile des Gothic orientiert sich ebenso wie der Steampunk an dem viktorianischen Zeitalter, weshalb einige Autoren, Artists oder auch wir in unserem Spiel diese beiden Subkulturen miteinander verbinden.“ Ich nickte, um ihr zu verstehen zu geben, dass ich ihr folgen konnte. „In unserem Beispiel stellt der Steampunk hier die Arbeiterschicht und das gehobene Bürgertum dar, während die Gothicszene aufgrund des edleren Stils die Gesellschaftsschicht der Adligen repräsentiert und dementsprechend höher steht. Es gibt da noch einige andere Möglichkeiten und Unterteilungen, aber das würde jetzt zu lange dauern. Fakt ist, dass sich der Gothicstil neben unserem Beispiel auch in vielen anderen Bereichen, Bücher, Comics, Manga, Filmen, Serien oder Games wiederfinden lässt. Mal mehr, mal weniger stark ausgeprägt und definiert.“

„Du scheinst sehr viel darüber zu wissen.“, meinte ich nachdenkend, obwohl sie nicht gerade danach aussah, dieser Szene anzugehören.
Ein verlegendes Lächeln zeigte sich in ihrem Gesicht.

„Ich hoffe, dass ich das zu meinem Abschlussthema machen kann.“

„Claire muss sich diese beiden Kulturen und deren Zusammensetzung aus einem bestimmten Grund ausgewählt haben.“, meinte ich nachdenkend und wandte mich wieder an Sillas. „Sillas. Welche Merkmale zeichnen eine urbane Legende aus, ohne wissen zu können, ob sie nun real oder fiktiv ist?“

„Das kommt darauf an, was für eine Art von Legende man erschaffen will.“, erwiderte er sachlich.

„Der Professor sagte, Claire wollte in ihrer späteren Masterarbeit, die auf ihrer derzeitigen Bachelorarbeit basiert, den Selbstversuch starten einen Mythos zu erschaffen – einen ‚modernen‘ schwarzen Mann, wenn man es denn so bezeichnen mag, wie er sagte.“

„Nicht gerade einfach in der heutigen Zeit.“, gab er zu bedenken.

„Was mich dabei interessiert ist, ob dies tatsächlich möglich ist.“

„Bei entsprechender Herangehensweise selbstverständlich.“

„Und worauf müsste man in diesem Fall achten?“

„Das kommt auf verschiedene Dinge an. Aber letztendlich wird das durch die Art des Mythos selbst entschieden. In Claires Beispiel sind es vor allem zwei Dinge, die besonders komplex sind.“

„Welche wären das?“ Ich kam mir ein wenig ungehalten vor als ob ich zwischen all diesen oberflächlichen Erklärungen eine weitaus tiefgründigere, detaillierte Information suchen würde, in der Hoffnung die eine oder andere Frage beantworten zu können.
Trotzdem blieb ich ruhig und versuchte ihn in keinster Weise zu bedrängen.

„Zum einen der Charakter selbst. Wer oder Was ist er? Was ist seine Hintergrundgeschichte, wenn es überhaupt eine gibt? Was treibt ihn an? All diese Fragen gilt es zu beantworten, ohne sie jedoch sichtbar zu beantworten, wenn man vermeiden will, dass sich andere darüber Gedanken machen und sich irgendetwas ausdenken, was den Mythos selbst aber nicht definiert. Ein recht simples Beispiel ist das Bild des Raben.“

„Das Zeichen für Tod und Elend.“, erwiderte ich.

„So sagt man es ihm seit der großen Pestepidemie im 16. Jahrhundert nach. Wann immer er am Eingang eines Dorfes oder den Zinnen der Stadtmauern zu sehen war hieß es, dass die Epidemie auch diesen Ort bald heimsuchen wird. In Wirklichkeit war es jedoch zunächst die Eule, der man dies nachsagte, bevor der Rabe, der beispielsweise in der nordischen Mythologie als treuer Begleiter und Bote angesehen wurde, diesen Platz unter anderem aufgrund seines schwarzen Gefieders einnahm, während die Eule für uns heute für Weisheit und Wissen steht.“

„Aber leben einige Legenden nicht davon, dass man sich über sie spekuliert, da man nicht alles oder kaum etwas darüber weiß?“, entgegnete ich, da es mir ein wenig seltsam vorkam dass man ein solches Ziel zwar verfolgte und zugleich auch nicht verfolgte.

„Das mag stimmen, aber wenn man mit einem Mythos ein bestimmtes Ziel verfolgt, sollte man vermeiden, dass es zu solchen Verunglimpfungen kommt. Natürlich bedeutet das nicht, dass es nicht dennoch Spekulationen gibt. Aber beruhen diese dann mehr auf den eigentlich schöpferischen Gedanken und nicht auf irgendwelchen Fantasien, die mit den Absichten des Schöpfers nichts zu tun haben.“

„Und wenn all diese Fragen beantwortet sind, was dann?“

„Dann heißt es den Mythos zum Leben zu erwecken.“, führte Anna weiter aus. „Indem man zum Beispiel eine Geschichte schreibt, ein kurzes Video macht oder irgendetwas, was diese Figur, wenn auch nur kurz, zeigt oder etwas über sie erzählt.“

„Wie durch eine Creepypasta.“

„Zum Beispiel. Aber gibt es auch hier Unterschiede, denn während man Glück hat und den Autor heraus finden kann, kann eine Handyaufnahme von irgendjemandem erstellt und von dieser Person dann einfach hochgeladen worden sein, ohne wirklich überprüfen zu können, von wem diese Aufnahme wirklich stammte.“

„Wie kann man es vermeiden, bei einer literarischen Schöpfung den entsprechenden Autor zu finden?“ Die beiden betrachteten das Notizbuch, welches aufgeschlagen auf dem Tisch lag und auch wenn ich bereits selbst eine Vermutung besaß, erschien es mir dennoch ein wenig wichtig sie von jemandem zu hören, der weitaus erfahrener in diesen Dingen war als ich.

„Indem man die Geschichte nicht im Internet publiziert.“, meinte Anna. „Darf ich?“, fragte sie und zeigte auf das Buch. Ich nickte und beobachtete sie dabei, wie sie es behutsam an sich nahm, es betrachtete und ein wenig darin herum blätterte. „Claire hat nicht ohne Grund weder so ein Buch noch diese besondere Verschlüsselung gewählt.“
Aufgrund dessen, wie sie mir den Sachverhalt erklärte, schloss ich, dass sich Anna auch in diesem Bereich ein wenig auszukennen schien, dafür aber umso sicherer als in dem anderen Thema.

„Was denkst du?“, erkundigte sich Sillas fragend.

„Dieses Buch fühlt sich wirklich so an, als ob es an die hundert, zweihundert Jahre alt ist.“, erklärte sie. „Und so wie ich Claire und ihren Erzählstil kenne könnten die Finder tatsächlich glauben, dass es sich nicht nur um irgendeine erfundene Geschichte handelt, vorausgesetzt sie machen keine Altersanalyse des Papiers.“

„Du meinst, weil niemand sonst einen Text verschlüsseln würde?“ Sie nickte. Zugegeben ich hatte einige Zweifel, ob das Menschen tatsächlich glauben würden, sollten sie dieses Manuskript finden. Andererseits ergab es durchaus Sinn, was sie sagte.
Ich nahm mir einen Moment kurz nachzudenken, ob sich eine weitere Frage zu den bisherigen Informationen ergeben hatte. Glücklicherweise war dem jedoch nicht so.

„Gibt es sonst noch etwas, wonach sie euch gefragt hat?“

„Ja.“, erwiderte Sillas nach einem kurzen Moment des Nachdenkens, als er sich an etwas zu erinnern schien. „Nachdem wir den Prototypen unseres Spiels eine Woche später fertig hatten, schien sie großes Interesse an der Stadt zu haben, die wir dafür erstellt hatten.“

„Welche Stadt?“ Ich beobachtete Sillas, wie er zu einem der Regale trat und nahm sich dort eine Röhre, die er öffnete und den darin enthaltenen Plan entnahm, wobei das landkartengroße Papier genauso wie die Seiten in Claires Notizbuch gefärbt worden war, um sie älter aussehen zu lassen. Er rollte das Papier auf dem Tisch aus und stellte einige Objekte darauf, damit sie sich nicht wieder einrollte.

Arkhon“ las ich den in dominanten Lettern geschrieben Namen der Stadt in der unteren Ecke, als ich die Stadt selbst betrachtete, wobei es sich jedoch nur um einige wenige Bezirke handelte. Und dennoch kamen mir zwei von ihnen sehr bekannt vor. Ich betrachtete den Aufbau und den Straßenverlauf der beiden Areale und bemerkte, dass sie mit denen aus Claire erschaffener Welt übereinstimmten.
Mein Blick wandte sich an die beiden.

„Ist das die gesamte Karte der Stadt?“ Irritiert und fragend schauten sie mich an.

„N-Nein. Es gibt noch acht weitere, aber sind diese noch nicht vollständig fertig.“

„Zeigt sie mir bitte.“ Sillas erhob sich abermals, um die anderen Karten zu holen. Währenddessen beobachtete ich Anna, wie sie sich an mich wandte und ahnte, was sie mich fragen wollte.

„Hat unser Spiel eventuelle etwas mit dem Fall zu tun?“, erkundigte sie sich ein wenig verunsichert.

„Es geht nicht um das Spiel an sich.“, erwiderte ich nachdenkend, während ich das Gefühl hatte, als ob ich damit beginnen würde die ersten Zusammenhänge zu verstehen. „Sondern um die Stadt.“

„Was meinen Sie?“

„Hier, Sergeant.“ Er reichte mir die vereinzelten Blätter, die normale weiße Seiten von Druckerpapier waren und nahm sie dankend entgegen. Sillas und Anna wechselten fragende Blicke miteinander, während sie mich dabei schweigend beobachteten, wie ich die vereinzelten Karten studierte, als ich schließlich den Hafenbezirk fand. Dieser war zwar noch unfertig, aber konnte ich mich noch an alle Details meines Besuches im Westwood District erinnern, weshalb ich mir einen Bleistift vom Tisch nahm und einige Notizen machte, die den Distrikt mit allen Details und Straßennamen vervollständigte, die ich mir gemerkt hatte.

„Sergeant.“ Ich hob den Blick und schaute zu den beiden, die mich noch immer mit einer Mischung aus Neugier, Verwirrung und Angst betrachteten. „Was … was geht hier vor?“ Ich musste mir überlegen, was ich Ihnen wohl sagen könnte angesichts des Faktes der Parallelwelt und der Verbindung zwischen Claires fiktiver Horrorgeschichte, die real zu werden schien.

„Wenn meine Vermutung richtig ist, scheint ihr ebenfalls auf der Liste des Täters zu stehen und jetzt weiß ich auch warum.“

„Was … was meinen Sie?“, fragte mich Anna, in deren Stimme ich ihre aufkommende Angst und Panik hören konnte.

„Der Täter scheint von Claires Geschichte und der Welt, in der sie spielt, zu wissen. Ebenso von ihrer Bachelor- und geplanten Masterarbeit.“

„Sie … Sie denken, dass der Täter ihr damit helfen wollte, ihren Selbstversuch zu bestätigen und mehr als nur eine fiktive Geschichte in der Realität umzusetzen?“, fasste Sillas diese Theorie ein wenig unglaubwürdig zusammen. Aber entsprach es genau der Theorie, die ich die beiden glauben lassen wollte, wobei sich der eine oder andere Aspekt sich in meine wahre Theorie einzuordnen schien. Ich antwortete ihm mit einem einfachen Nicken. „Aber warum sollte er sie dann töten?“

„Weil sie die eigentlich Quelle war, die diesen Mythos belegen oder wiederlegen konnte.“, wies ich ihn auf seine Aussage über die wichtigsten Aspekte bei der Erstellung eines solchen Mythos hin. „Indem er sie getötet hat bleiben nur diese wenigen verstreuten Hinweise, die ausreichen, damit die kommenden Theorien und Geschichten anderer auf diesen beruhen und sich der Mythos genau so entwickelt, wie es sich Claire gedacht hatte.“

„A-Aber wer sollte von all dem wissen, wenn es noch nicht einmal wir oder Naomi tun?“ Annas Stimme klang schwach, angetrieben von panischer Angst, die sie blass werden ließ, wobei selbst das wasserstoffblonde Haar so wirkte, als würde es weiß werden. Sillas ging zu ihr und legte schützend den Arm um sie, aber selbst diese Geste half nicht einmal ansatzweise um ihr ein sicheres Gefühl zu geben.

„Ich weiß es nicht.“, gestand ich, auch wenn ich diese Antwort bereits wusste. „Wie ihr bereits sagtet war Claire, wenn es um ihre Arbeiten ging, sehr verschlossen. Das spielt dem Täter dementsprechend in die Hände, vor allem wenn ihm dieses Detail selbst bekannt ist.“

„Ob es vielleicht dieselbe Person gewesen ist, die versuchte in ihr Zimmer einzubrechen?“ Es wunderte mich ein wenig, dass er davon wusste, als ich daran denken musste, dass Studenten untereinander reden und sich solche Informationen wie ein Lauffeuer verbreiten.

„Möglich wäre es.“ Obwohl meine Äußerung nicht der Wahrheit entsprach, wollte ich angesichts Annas bereits mehr als anzusehende Angst diese nicht noch weiter schüren, indem ich den beiden sagte, dass diese Gestalt nichts mit der Ermordung ihrer Kommilitonen und Freunde zu tun hatte.

„Was werden Sie jetzt tun?“
Sillas ruhiges Verhalten war eine Seltenheit angesichts der möglichen Gefahr, in der er sich befand. Aber wie bereits im Vorlesungssaal, als ich ihnen die Nachricht über Claires Ermordung mitgeteilt hatte, setzte er alles daran zumindest seiner Freundin emotional beizustehen, indem er selbst nicht schwach erscheinen durfte.
Bei dem Gedanken kam mir ein kleines, kaum sichtbares Schmunzeln über meine Lippen, als ich kurz durchatmete, um ihm zu antworten.

„Ich werde mich darum kümmern, dass ihr Personenschutz erhaltet, solange die Ermittlungen andauern. Und jetzt, wo sich meine Theorie zu bestätigen scheint, sind es Claires Notizen, die uns bei den weiteren Schritten helfen können, den Mörder zu finden, bevor es ein weiteres Opfer geben wird.“ Ich wandte mich an Sillas. „Ich muss diese Pläne an mich nehmen.“

„Nehmen Sie sie.“ Ich nahm die vereinzelten Blätter und legte sie in Claire Buch, bevor ich mich wieder an die beiden wandte.

„Eine vorerst letzte Frage.“ Erwartungsvoll schauten mich die beiden an. „Wer von euch hat ihr bei der Erstellung der vereinzelten Figuren geholfen?“

„Niemand.“, verneinte Anna meine Frage mit der noch immer schwächelnden Stimme. „Wir … hatten sie danach gefragt, aber hatte sie vorerst dankend abgelehnt.“ Innerlich seufzte ich enttäuscht, während ich daran dachte, dass es doch zu einfach gewesen wäre, weshalb es nur zwei Möglichkeiten geben konnte.

Entweder gab es eine weitere, bisher noch nicht bekannte Quelle, die Claire unterstützt hatte oder aber es gab niemanden. In diesem Falle hätte sie sämtliche ihrer Charaktere selbst recherchiert und erdacht, was die Sache schwieriger machte, denn selbst, wenn ich wieder in seiner Welt war, hieß das noch lange nicht, dass ich sie auch finden würde.

„Schon gut. Ihr habt mir bereit mehr als genug geholfen.“, erwiderte ich, in der Hoffnung ihnen zumindest ein wenig Trost und Mut zusprechen zu können und ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie tatsächlich etwas zu den Ermittlungen beitragen konnten. Und obwohl sie es ihnen nicht wirklich bewusst war, so war das, was sie mir erzählten, mehr als ich bisher erfahren konnte – über diesen Fall, vor allem aber über Claires Welt, in die ich in der kommenden Nacht weitaus mehr bezwecken könnte als bei meinem letzten Besuch. „Entschuldigt mich bitte einen Moment.“, sagte ich, holte mein Funkgerät und trat kurz in den Nebenraum, wo ich die Wache anfunkte und kurz erklärte, dass ich aufgrund eines hinreichenden Tatverdachtes Personenschutz für die beiden Studenten benötigte. Wäre es ein anderer Kollege gewesen, der diese Anfrage stellte, wäre der Beamte am anderen Ende der Leitung sicherlich weitaus freundlicher gewesen. Aber weder hatte ich die Nerven, noch die Zeit mit ihm lange zu diskutieren, weshalb ich damit drohte es in meinem Bericht an den Superintendent zu erwähnen, sollte es so weit kommen, dass eine der beiden verletzt oder getötet wird. Daraufhin befolgte der Kollege wie von der Tarantel gestochen dem Befehl ohne weitere Wiederworte.

Eigentlich zeugt es nicht gerade von allzu großem Durchsetzungsvermögen jemandem mit dem Vorgesetzten zu drohen, wenn man seinen Willen nicht bekommt. Aber der Umstand, dass es hierbei um das Leben zweier Studenten ging, sollte eigentlich viel höher stehen als die Rivalitäten zwischen den Beamten.

Ich schluckte meinen Ärger hinunter und machte mich wieder zu den beiden ins Nebenzimmer auf.

„Die Kollegen werden in wenigen Minuten hier sein.“, berichtete ich und setzte mich wieder zu ihnen, während ich mir überlegte, wie ich unser Gespräch in eine andere Richtung lenken konnte, als mir erneut das Spielequipment auf dem Tisch auffiel.

Ich fragte sie, worum es in ihrem Spiel ginge, worauf sie mir davon erzählten.
Zuerst war es lediglich ein Versuch gewesen sie von den trüben und beängstigenden Gedanken wegzubringen, aber je mehr sie mir von dem Spiel und der Stadt erzählten, desto aufmerksamer wurde ich und begann genau zuzuhören.

Beiden sah ich deutlich an, dass sie sich mit zunehmender Tiefe des Gespräches ein wenig beruhigten, während sie sich darüber zu freuen schienen, dass ich tatsächliches Interesse an ihrer Arbeit zeigte. So erfuhr ich einiges mehr über die Stadt, über deren Aufbau und Struktur, die Gesellschaftsschichten, die Bezirke mit ihren jeweiligen Distrikten und ihre Eigenschaften, als auch die vorherrschenden Probleme. Ich war mir sicher, dass mir all diesen Informationen weiterhelfen würden, wenn auch nicht unbedingt hier.

Als die Kollegen schließlich eingetroffen waren, verabschiedete ich mich und machte mich auf den Rückweg zum Präsidium. Mit einem frischen Tee setzte ich mich mit den neuen Beweisen an meinen Schreibtisch und begann sie genauer zu studieren. Ich schaute mir die vereinzelten Bezirke und Distrikte etwas genauer an und schrieb sämtliche Informationen, die mir Sillas und Anna über sie bei unserem Gespräch gegeben hatten, auf. Anschließend machte ich mich wieder daran die nächsten Seiten zu decodieren, um die Geschichte weiter lesen zu können. Dabei lief mir angesichts der Tatsache, dass sämtliche Ereignisse beinahe genau so übereinstimmten wie in ihrer Geschichte, immer wieder ein unangenehmer, kalter Schauer über den Rücken. Es war, als ob ich nicht nur eine bis ins Detail beschriebene Erzählung der bisherigen Vorkommnisse vor mir hatte, sondern vermutlich ab einer bestimmten Stelle erfahren könnte, was als nächstes passieren würde, um somit dem Täter vielleicht mehr als nur einen Schritt voraus sein zu können.

Zumindest war dies meine Hoffnung.

Erneut vergingen die Stunden, ohne dass ich es wirklich bemerkte, ebenso wie das Geschehen und die Beamten um mich herum, während ich abwechselnd decodierte, las und ab und an auf die Pläne der Stadt schaute. Mit zunehmendem Fortschritt begannen sich auch die Seiten meines Notizbuches mit wichtigen Informationen, Hinweisen, Gedanken und ersten Schlüssen zu füllen.

Aber als ich zu der Stelle gelang, als die Protagonistin an ihrem Schreibtisch saß, die Hinweise studierte und sich ein möglicher Verdacht andeutete, was als nächstes passieren würde, endete die Geschichte genau an dem Punkt, an dem vom erhofften Hinweis die Rede sein sollte.

Und genau diesen Punkt hatte ich nun erreicht, auch wenn ich keinerlei Anhaltspunkte für einen möglichen Verdacht besaß.

Die Geschichte war hier zu Ende, sodass weder ich noch er wussten, wie die Geschichte weiter verlaufen würde. Denn würde es nun an uns beiden liegen, wie sich die weitere Handlung fortsetzen würde, ohne zu wissen, was jeden von uns beiden noch erwarten würde.
Zumindest erging es mir so, während ich daran dachte, dass er es bereits wüsste.

Einen Moment lang hielt ich inne und starrte auf die leeren Seiten, als ich mit einem Gefühl der Enttäuschung seufzte und mich dabei in meinem Stuhl zurück lehnte, wobei ich für einen Moment die Augen schloss.

Verdammt, dachte ich, warum jetzt?
Warum ausgerechnet an dieser Stelle?

Natürlich machte ich Claires keinen Vorwurf, denn hätte sie die Geschichte vermutlich fortgesetzt und mir mehr hinterlassen können, wenn sie ihren Mörder nur einen Tag später begegnet wäre.
Es mag geschmacklos klingen, aber hätte es trotz dieses Wunsches etwas geändert?
Aber war es nun wie es war und ließ sich jetzt nicht mehr ändern, weshalb ich selbst herausfinden musste, wie die Geschichte – meine Geschichte – weiter ging.
Selbst wenn ich keinerlei Ahnung davon hatte, was mich noch alles erwarten würde.

Aufgeben kam für mich jedoch nicht in Frage, zumal ich bereits so tief in der Sache drinhing, dass es kein Zurück mehr gab. Und selbst wenn würde ich es nicht wollen.
Ich beugte mich wieder über das Buch und blätterte durch die nächsten noch unbeschriebenen und darauf wartend mit Tinte beschrieben zu werdenden Blätter durch, ohne irgendetwas zu erwarten, als ich plötzlich auf eine kleine Notiz stieß. Überrascht blieb ich auf der Seite stehen und betrachtete die wenigen mit Bleistift geschriebenen Worte, die sie im Vergleich zu den vorigen Seiten mit Angst und zittriger Hand vermerkt hatte.

Er wird mich finden, hier als auch dort, bevor die Zeit zwischen der Verschiebung vorbei ist. Lassen Sie es nicht zu, dass er mich findet.
Bitte – helfen Sie mir, wie Sie es schon einmal getan haben.

Mir war sofort klar, dass es sich hierbei nicht um einen Auszug aus ihrer Geschichte handelte, sondern um einen realen Hilferuf, als ob sie geahnt hätte, was ihr bevorstand. Nur … warum hatte sie sich nicht direkt an die Polizei gewendet anstelle diese Nachricht zu hinterlassen, die wir erst finden würden, wenn es bereits zu spät wäre, wenn wir sie überhaupt gefunden hätten?

Eine entsprechende Antwort fand ich sofort, denn wer würde einem jungen Menschen wie ihr schon glauben von einer unbekannten und vielmehr fiktiven Figur gejagt und ermordet zu werden ohne einen entsprechenden handfesten Beweis?

Andererseits machten sich einige Zweifel in mir breit, ob es sich tatsächlich um einen Hilferuf handelte, als ich mich an das Gespräch mit Sillas erinnerte. Das Buch, dessen Inhalt eine sonderbare Verschlüsselung besaß, könnte für Claires Vorhaben, was die Erschaffung eines neues Mythos betraf, tatsächlich bereits ausreichen. Durch die plötzliche Unterbrechung der Geschichte in Verbindung mit diesem aus Angst verfassten Hilferuf würde jedoch ein besonderer Effekt entstehen. Hierbei hätte man tatsächlich eine Art Beweis, dass die Person real wäre, was einen aber auch an der Echtheit dieser Worte zweifeln lassen konnte, wäre da nicht die besondere Schreibweise.

Während die anderen Wörter und Passagen wohl überlegt waren, mit sicherer Hand und Präzision niedergeschrieben worden sind, zeigte jede einzelne dieser Linien eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Erschütterung wie bei einem Erdbeben der Stufe 3 auf der Richterskala. Mehrfach hatte sie den Stift ab- und wieder angesetzt, die Führung war wild und wies verschiedene Stärken an Druckkraft auf, als ob sie sich nicht unter Kontrolle gehabt hätte. Ich mochte keine Expertin in Graphologie sein, aber zeigten mir diese Details, dass dies kein Versuch war ihrer Arbeit mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, sondern eine reale, ernstzunehmende Botschaft der Angst.

Ich überflog ihre Nachricht ein weiteres Mal.
Mir war bewusst, dass sie mit hier als auch dort unsere als auch seine, beziehungsweise ihre selbst erschaffende Welt meinte, aber machten mich zwei Dinge stutzig, die mir seltsam erschienen – die Erwähnung einer Zeitverschiebung im Zusammenhang damit, dass es zu spät sein würde, sollte die unbekannte Länge an Zeit dazwischen vorbei sein und ihrer Bitte nach meiner Hilfe, die ich ihr schon einmal gegeben haben soll.

Vor allem letzterer Punkt machte mich stutzig angesichts dessen, dass ich diesem Mädchen, zumindest in unserer Welt, noch nie zuvor begegnet war. Es sei denn, sie bezog sich auf mein zweites Ich, aber zweifelte ich ein wenig daran, da in den bisherigen Aufzeichnungen und Notizen meines Charakters nichts dergleichen zu finden war. In dem vergeblichen Versuch diese zwei Welten Sache voneinander trennen zu können erfassten mich wieder leichte Kopfschmerzen. Ohne mich von diesen jedoch unterkriegen zu lassen lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und machte mir Gedanken über die neuen Erkenntnisse, die mir im Moment genauso wenig halfen, wie viele der anderen offenen Fragen, die noch immer in meinem Kopf herumschwirrten.

Ich schaute auf die Uhr und stellte fest, dass ich wie das letzte Mal bereits seit drei Stunden Feierabend hatte. Ein enttäuschtes Seufzen entfuhr mir, bevor ich damit begann die vereinzelten Beweise in meiner Schublade zu verstauen und abzuschließen, meine Sachen zusammen packte und mich zu den Umkleiden aufmachte.

Während ich mich umzog und noch einige Minuten auf der Bank saß, kam zumindest heute kein anderer Kollege hinzu, um wieder irgendeine Bemerkung über mich zu machen, als ich mich dazu entschloss Heim zu fahren. Ich nahm mir meine Tasche und öffnete die Tür, als ich Havelock entdeckte, dem ich ansehen konnte, dass er offensichtlich nach mir gesucht hatte.

„Cass.“

„Ja?“

„Hättest du einen Moment?“ Er schaute sich ein wenig um, um sicherzugehen, dass sich kein anderer Kollege in der Nähe befand.

„Klar, was gibt es?“, meinte ich etwas erschöpft und versuchte noch eine gewisse Aufmerksamkeit aufzubringen.

„Wir … haben gehört, was passiert ist. Nun ja, kein Wunder bei den ganzen Arschlöchern hier, die keine Gelegenheit ungenutzt lassen dich schlecht zu machen.“

„Ich weiß eure Unterstützung zu schätzen.“, erwiderte ich mit einem knappen Lächeln, dass ich noch aufbringen konnte. „Aber geht es mir gut. Ich bin nur müde, das ist alles.“ Obwohl Eric mich hauptsächlich durch das Beobachten und die Geschichten der anderen kannte, schien er genaustens zu wissen, dass es nichts brachte zu versuchen auf mich einzugehen. Er seufzte leise.

„Wenn du etwas brauchst, sag Bescheid.“ Ich trat an ihm vorbei, als mir etwas einfiel.

„Gibt es schon Neuigkeiten von der Spurensicherung?“ Er drehte sich zu mir.

„Die Ergebnisse dürften demnächst kommen, aber viel dürfte es nicht sein.“ Er zögerte einen Moment. „Mittlerweile kursiert das Gerücht, dass wir nach einem Geist jagen, obwohl andere der Meinung sind, dass es sich vielmehr um einen Polizisten oder Kriminalisten handeln könnte.“ Das er mir das sagte war keineswegs Zufall und ich wusste sofort, was er damit ausdrücken wollte. „Hast du etwas herausfinden können?“

Ich dachte einen Moment darüber nach, ob ich ihm etwas von meinen bisherigen Erkenntnissen stecken sollte, die ich noch in keinem Bericht erwähnt hatte. Zum einen vertraute ich ihm, denn gehörte er zu den wenigen, die weiterhin zu mir hielten, zum anderen war ich es ihm aufgrund seiner Hilfe und der Warnung schuldig.

„Noch habe ich nicht alle Verbindungen, aber ich denke, dass Claire aufgrund einer Geschichte ermordet worden ist, an der sie im Zusammenhang mit ihrer Abschlussarbeit gearbeitet hat.“

„Du meinst, dass jemand diese Geschichte zum Leben erwecken will?“ Obwohl er versuchte sachlich und ernst zu bleiben konnte ich dennoch unterschwellig eine gewisse Unglaubwürdigkeit mit einer schlechten Erinnerung heraus hören. Ich machte ihm deshalb keinen Vorwurf, denn mit dem Fall des Teufelsautors hatten wir bereits etwas ähnliches durchmachen müssen. „Verdammt, nicht schon wieder.“

„Bisher ist es lediglich eine Annahme, die ich derzeitig zu bekräftigen oder zu wiederlegen versuche.“

„Dann solltest du vielleicht wissen, dass eine Kommilitonin Claires heute hier gewesen ist und sich nach ihren persönlichen Sachen erkundigt hat.“ Etwas fragend schaute ich ihn an.

„Eine Kommilitonin? Wer?“ Er versuchte sich an den Namen zu erinnern, aber drängte ich ihn auch nicht, selbst wenn es bedeutete, dass ich noch einige Minuten brauchen würde um das Revier endlich verlassen zu können.

„Eine gewisse … Amanda. Amanda Richards. Sagt dir der Name etwas?“

„Sie ist eine der wenigen Freunde, die Claire besessen hatte.“ In meinem Kopf begannen sich die Räder wieder langsam zu drehen, darüber nachdenkend, warum sie nach Claires Sachen gefragt hatte. „Hatte sie dabei ihre Abschlussarbeit erwähnt?“

„Nein. Lediglich nach ihren Sachen, die wir bei Claire sicherstellen konnten.“, erwiderte er und gab mich vorerst mit der Antwort zufrieden, behielt sie aber weiterhin im Hinterkopf.

„Trotzdem danke.“

„Kein Problem.“

„Also dann bis morgen.“

„Ja, schlaf gut.“ Ich kam nicht darum herum ihm ein kleines Lächeln zu schenken, ehe ich mich auf den Weg nach Hause aufmachte. Während der Fahrt machte ich mir Gedanken darüber, was mir Havelock erzählt hatte, wobei mir immer wieder dieselbe Frage in den Sinn kam, warum sich Amanda nach Claires persönlichen Dingen erkundigt hatte.

Ich versuchte eine Antwort darauf zu finden, aber war es vielmehr eine andere Frage, die sich mir aufdrängte.

War es womöglich sie, die versucht hatte sich zu Claires Zimmer Zugang zu verschaffen?
Aber wenn dem so wäre, warum?
Warum sollte sich eine ihrer Freundinnen unerlaubten Zugang zu ihrem Zimmer verschaffen?
Wegen der Geschichte – Womöglich, aber eher unwahrscheinlich.
Wegen der Abschlussarbeit – Naheliegender.
Vielleicht hatte Amanda Claire die ganze Zeit über nur die Freundschaft vorgespielt um ihr Vertrauen zu gewinnen, wodurch sie dann wiederum Zugang oder zumindest einige Dinge wissen könnte, die ihr bei der Beschaffung der Notizen hilfreich sein konnten.

Eine nette Vermutung, dachte ich mir, aber anhand noch fehlender Beweise eine haltlose Theorie. Demzufolge konnte sie auch vollkommen falsch sein und Amanda wollte überhaupt nichts dergleichen, sondern einfach nur Claires persönliche Sachen abholen, in der Hoffnung sie vielleicht noch ein letztes Mal sehen zu können.

Vielleicht sollte ich auch bei ihr noch einmal das Gespräch suchen, nicht zuletzt um herauszufinden, ob sie ebenso ein mögliches Opfer darstellte wie Sillas oder Anna.
Aber angesichts der Erschöpfung musste ich mir morgen weitere Gedanken darüber machen, weshalb ich aufhörte darüber nach zu denken und einfach auf die Straße vor mir achtete.

Zuhause angekommen hatte ich keinen allzu großen Hunger, weshalb ich mir etwas Einfaches machte, mich an den Tisch setzte und meinen Gedanken nach ging. Dabei musste ich immer wieder zu meiner Tasche hinüber schauen, in der sich Claires Notizbuch, Sillas Pläne und meine Notizen befanden.

Mir war bewusst, dass ich nicht nur ein Beweisstück entwendet hatte, sondern auch ein weiteres ohne entsprechenden Vermerk an mich genommen hatte – ein schwerwiegendes Vergehen, wodurch der Fall kippen könnte, sollte er vor Gericht landen, und für mir ein Disziplinarverfahren oder gar den Rausschmiss bedeuten könnte. Dennoch blieb ich gelassen und in keinster Weise nervös, obwohl ich es vielleicht hätte sein sollen.

Darüber hinaus wusste bisher niemand, dass es sich bei dem Notizbuch um ein entscheidendes Beweisstück handelte, geschweige denn von den Zeichnungen der Pläne.

Nach einer abschließenden warmen Tasse Tee begab ich mich ins Schlafzimmer, zog mich aus und machte mich fertig ins Bett zu gehen, als ich daran denken musste, dass ich es heute wieder alleine tat.

Ich erinnerte mich an das liebliche Bild Doktor Layhnes, wie sie letzte Nacht auf der anderen Seite des Bettes lag und schlief, wie ich mich zu ihr legte, mich an sie schmiegte und nach einer gefühlten Ewigkeit wieder in den Arm genommen hatte um sie nie wieder los zu lassen.
Ich seufzte betrübt.
Sollten wir es wirklich noch einmal wagen?
Unserer einstigen Beziehung eine zweite Chance geben?
Oder war es vielleicht besser einfach nur Arbeitskollegen zu bleiben?
Um ehrlich zu sein wusste ich es nicht.
Vielleicht müsste ich mir einmal in Ruhe Gedanken darüber machen, denn eine Nacht darüber zu schlafen konnte ich aufgrund meines zweiten Ichs nicht.

Und genau das war es jetzt, worauf ich mich konzentrieren musste, weshalb ich mich ins Bett legte, die Decke über meinen Körper streifte, ruhig durchatmete, die Augen schloss und auf den Traum wartete.

Kapitel 7: coming soon

 

 

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