Weiße Weihnacht! Ihr ganzes Leben lang schon hatte Moira von weißer Weihnacht geträumt, mit dicken, weißen Schneeflocken, Schlittenfahrten und Schneeballschlachten. Und einem Schneemann im Vorgarten. So wie man es in den amerikanischen Filmen immer sah. Leider lag ihre Farm in einer Gegend, in der Schnee praktisch ausgeschlossen war. Und ihre Eltern hatten in den dreizehn Jahren ihres Lebens nie genug Geld gehabt, um an Weihnachten mal irgendwo Urlaub zu machen, wo garantiert Schnee lag.
Sie machte ihren Eltern keinen Vorwurf deswegen. Es ist, wie’s ist; da hilft kein Jammern, wie ihr Dad immer sagte. Recht hatte er ja, aber schade war’s trotzdem. Umso schöner war es, dass sie letztendlich doch einmal weiße Weihnacht feiern konnten. Die Geschenke würden dieses Jahr zwar deutlicher spärlicher
Weiße Weihnacht! Ihr ganzes Leben lang schon hatte Moira von weißer Weihnacht geträumt, mit dicken, weißen Schneeflocken, Schlittenfahrten und Schneeballschlachten. Und einem Schneemann im Vorgarten. So wie man es in den amerikanischen Filmen immer sah. Leider lag ihre Farm in einer Gegend, in der Schnee praktisch ausgeschlossen war. Und ihre Eltern hatten in den dreizehn Jahren ihres Lebens nie genug Geld gehabt, um an Weihnachten mal irgendwo Urlaub zu machen, wo garantiert Schnee lag.
Sie machte ihren Eltern keinen Vorwurf deswegen. Es ist, wie’s ist; da hilft kein Jammern, wie ihr Dad immer sagte. Recht hatte er ja, aber schade war’s trotzdem. Umso schöner war es, dass sie letztendlich doch einmal weiße Weihnacht feiern konnten. Die Geschenke würden dieses Jahr zwar deutlicher spärlicher ausfallen als früher und sich wahrscheinlich auf eher praktische Dinge wie dicke Socken und warme Pullover beschränken, aber das machte dem Mädchen nichts aus. Allein schon zu sehen, wie die bunten Lichter des Weihnachtsbaumes auf der Schneedecke widerschimmerten und diese zum Glitzern brachten, war ihr Entschädigung genug.
Natürlich war es nicht genau wie in den amerikanischen Filmen. Zum Beispiel hatten sie keinen Schlitten. Wozu auch in dieser Gegend? Und wer hätte noch vor einem halben Jahr mit so einem Weihnachtswetter rechnen können? Aber ihr Dad hatte Moira erlaubt, einen der Ersatzschläuche für die Hinterräder des alten Traktors zum Rodeln zu benutzen. Und der Hügel auf der Südweide hatte sich als idealer Rodelhang erwiesen. Ihr Vater hatte sie quasi gewaltsam wieder ins Haus holen müssen, sonst wäre ihr wahrscheinlich die Nase abgefroren. Doch selbst Mom hatte nur halbherzig geschimpft, als sie mit blauen Lippen und eiskalten Füßen wieder vor ihr gestanden hatte.
Heute war Moira drinnen geblieben und hatte sich damit begnügt, den Schneeflocken vor dem Fenster beim Niederwirbeln zuzusehen. Wobei „sich begnügen“ nach mehr Verzicht klang, als sie tatsächlich empfand. Auf sie übte der Tanz der eisigen Kristalle eine ähnliche Faszination aus wie die Brandung des Meeres oder das Lodern eines Lagerfeuers. Ihre Mutter musste sie sogar zweimal zum Essen rufen, so schwer fiel es dem Mädchen, sich von dem ungewohnten Spektakel loszureißen. Und nachdem sie ihr Mahl eher beiläufig in sich hineingeschoben hatte, war sie sofort wieder zu einem der großen Wohnzimmerfenster gestürmt und hatte ihre Augen erneut der auf so zauberhafte Weise veränderten Außenwelt zugewandt.
Als sie den Blick an dem vom Haus abgewandten Zaun der westlichen Pferdekoppel entlangschweifen ließ, fiel dem Mädchen ein kleiner Schneehaufen auf, der tags zuvor mit Sicherheit noch nicht dagewesen war. Moira überlegte. Sie kannte die westliche Koppel in- und auswendig und wusste, dass an dieser Stelle kein Busch oder sonst etwas stand, das die Erhebung im Schnee hätte verursachen können. Hatten Mom oder Dad vielleicht damit begonnen, heimlich einen Schneemann für sie zu bauen, während sie beim Rodeln gewesen war? Oder hatten die Beiden dort vielleicht heimlich ein Weihnachtsgeschenk für sie versteckt, dem der nächtliche Frost nichts ausmachte?
„Mom, ich bin mal eben draußen“, erklärte Moira ihrer Mutter kurz angebunden, als sie begann, ihre inzwischen wieder trockenen Stiefel anzuziehen. „Aber mach nicht wieder so lange!“, mahnte sie diese. „Du bist dieses Wetter nicht gewöhnt, und ich habe keine Lust, übers Fest eine Kranke zu pflegen.“ Sie nickte lächelnd: „Versprochen. Ich bin in fünf Minuten wieder da.“ – „Spätestens in zehn“, erwiderte ihre Mutter und fuhr fort, das Geschirr vom Mittagessen zu spülen. Eine warme Woge der Zuneigung durchströmte die Jugendliche. Die Arbeit auf der Farm war hart, und sie hatte schon früh ihren Beitrag dazu leisten müssen. Aber zum Ausgleich gewährten ihr ihre Eltern auch Freiheiten, von denen Stadtkinder nur träumen konnten.
Drei Minuten später erreichte Moira den an der höchsten Stelle nicht ganz einen halben Meter hohen Schneehaufen am Zaun der Koppel. Eines hatte sie schon aus einigem Abstand erkannt: Es war definitiv keine Schneeverwehung. Irgendetwas lag dort unter dem Schnee. Und es sah nicht künstlich aus. Von der höchsten Stelle lief der Schnee in drei deutlich erkennbaren Strukturen aus. Die längste und breiteste endete in einer vage dreieckigen, etwa handbreit über den Schnee ragenden Form, eine weitere, deutlich schmalere knickte an einer Stelle plötzlich in scharfem Winkel ab, um sich nach einer guten Unterarmlänge unter der Schneedecke zu verlieren. Die Dritte erstreckte sich parallel zum Zaun und erinnerte Moira an einen kurzen, kräftigen Ast oder Tentakel.
Das Mädchen trat an den Haufen heran, ging in die Hocke und streckte den Arm aus, um das Gebilde zu untersuchen. Kurz bevor ihre Fingerspitzen den Schnee berührten, zögerte sie, als einen Moment lang das Bild eines aus dem Schnee hervorschnellenden Monsters an ihrem inneren Auge vorbeizog. Dann stieß Moira ihre Hand entschlossen in den Schnee – und hielt unwillkürlich den Atem an, als sie dichtes, kräftiges Fell ertastete. Sie schnaubte verärgert über ihre Ängstlichkeit und begann, mit raschen, kräftigen Bewegungen den Schnee vom Körper des toten Wallaby zu schieben. Fast war ihr nach Heulen zumute, als ihr klarwurde, dass es wahrscheinlich das letzte Beuteltier war, das sie je zu Gesicht bekommen würde. Doch dieses Gefühl währte nur einen Augenblick, bevor es wieder grimmiger Entschlossenheit Platz machte.
Moira zog geräuschvoll den Rotz hoch und spuckte ihn in den Schnee. „Es ist, wie’s ist; da hilft kein Jammern“, sagte sie trotzig in die Kälte hinein und stapfte zurück zum Haus. Ob sie den Stoizismus nun von ihrem Vater ererbt oder erlernt hatte oder ob es sich nur um eine natürliche, notwendige Anpassung an die harschen Lebensbedingungen hier im australischen Outback handelte, wusste sie nicht. Und es war ihr auch egal. Wenn die Meteorologen und Vulkanologen Recht behielten und nicht doch noch ein Wunder geschah, würden sie den nächsten Winter ohnehin nicht überleben. Sie würden alle genauso enden wie das erfrorene Känguru. Und wenn schon. Sie würde sich die erste weiße Weihnacht (und wohl auch letzte) ihres Lebens nicht dadurch vermiesen lassen.