ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Teil 1.1
Etwas Warmes fließt über mein Gesicht, in meine Augen, schneidet meinen Blick von der Außenwelt ab. Dafür kann ich hören und spüren, was um mich herum passiert: Die Welt steht in Flammen und das Feuer kreischt.
Die Flammen klammern sich an meine Haare, meine Kleidung, alles, was brennt. Ich kann nur verzweifelt versuchen, mich zu bewegen, und den Schmerz ertragen. Mein Arm klemmt unter meinem Körper fest, etwas presst mich gegen den Boden. Mein Herz schlägt rapide gegen meinen Brustkorb, mein Atem geht bloß in Stößen, Angst schürt mir die Kehle zu. Ich will mich hochstemmen, mich befreien, aber meine Glieder gehorchen mir nicht. Stattdessen liege ich da, das Gesicht in den Boden gedrückt, und höre dem Feuer beim Kreischen zu.
Ein zweites Geräusch mischt sich unter das Kreischen. Erst ist es bloß ein dumpfes Brummen, doch ich erkenne es, während es lauter wird: Räder auf einer Straße. Es verstummt kurz bevor es zu laut wird. Die Tür eines Wagens öffnet sich, dann ertönen gehetzte Stimmen. Etwas sagt mir, dass ich mich beruhigen kann, dass gleich Hilfe kommt.
Ich blinzle das warme Blut aus meinen Augen. Das Kreischen wird leiser, dann wieder lauter, schwillt ab und an, als würde es sich nicht entscheiden können.
Ich hebe meinen Kopf und sehe Licht.
Teil 1.2
Etwas leuchtet vor mir in der Dunkelheit. Ich strecke die Hand danach aus. Ein Funke wird zur Kerzenflamme. Sie wird größer, je näher ihr meine Fingerspitzen kommen. Die Hitze, die davon ausgeht, prickelt angenehm auf meiner Haut inmitten all der Kälte.
Die Flamme zischt, flackert, wächst, bis ich ein Lagerfeuer in den Händen halte, das kein Holz und keine Kohle hat. Das Feuer klettert weiter, frisst sich in die Dunkelheit hinein, bis ein Inferno von meinen Fingern tropft und sich im Nichts vor mir aufrichtet.
Ein Kopf löst sich aus dem Chaos. Inmitten von Rot und Gelb formen sich zwei Münder, und als ich verstehe, was vor mir steht, fange ich an zu schreien.
Ich zucke hoch. Meine Rippen knacken, der Schmerz drückt mir alle Luft aus den Lungen. Blut donnert in meinen Ohren und neben dem Kreischen, das in Wellen lauter wird, ertönt zeitgleich ein hastiges Piepen. Irgendetwas ist verdammt eng um mein Gesicht gewickelt. Ich kralle meine Finger hinein und zerre, bis ich kalte Luft an meinen Lippen spüre. Gierig und verzweifelt atme ich durch, hake dann meine Finger, die immer noch brennen, in das, was meine Augen verdeckt, und ziehe es über meinen Kopf.
Ich keuche auf, krümme mich, bis das spitze Stechen in meinem Brustkorb vergeht.
Das Zimmer vor mir ist in Schwarz-, Grau- und Blautöne getaucht. Kleine gelbe Streifen sind auf den Boden gepinselt. Ich finde einen Moment später ihre Quelle als eine Straßenlampe hinter zugezogenen Jalousien. In ihrem Licht erkenne die Umrisse einer Matratze, meiner eigenen Füße unter einer Decke und eines leeren Krankenbetts am anderen Ende des Raumes.
Ich versuche, das schwammige Gefühl des Schlafes abzuschütteln. Alles sieht flach, leicht verschwommen aus. Erst als ich mir den Sand aus den Augen reibe, bekomme ich mit, dass ich meine Hand dabei nicht sehen kann. Begriffsstutzig winke ich vor meinem linken Auge herum. Es ist blind.
Als ich aufstehen möchte, zieht etwas an meinem Arm. Ich kneife die Augen zusammen und erkenne Schläuche, die zu einem Infusionsbeutel an einem Ständer führen. Daneben ein Herzmonitor, dessen Piepen sich mit jedem meiner Atemzüge wieder verlangsamt.
Ich klappe das Geländer an der Seite des Bettes hinunter und zerre schwerfällig meine Füße über den Rand der Matratze. Der Stoff meines Shirts und meiner Hose fühlt sich an meinem Körper wie Sandpapier an. Von Knöchel zu Oberschenkel und Fingerspitze zu Schulter sind Pflaster und Verbände und überall, wo das dunkle Bronze meiner Haut noch sichtbar ist, sind Brandnarben, die weitaus älter und bereits verblasst sind. Verzweifelt versuche ich mich daran zu erinnern, woher die Wunden oder die Narben kommen, aber nichts antwortet in meinem Kopf.
Ich steige aus dem Bett, meine Beine zittern unter meinem eigenen Gewicht und knicken sofort unter mir ein. Schwerfällig lande ich auf allen vieren, meine Knie geschunden und meine Arme und Beine zu schwach. Mein Magen knurrt laut.
Wie lange habe ich geschlafen?
Obwohl meine Muskeln dabei schreien, zwinge ich mich auf die Beine. Ich zerre den Ständer mit dem Infusionsbeutel hinter mir her und hinke langsam zum Fenster, ziehe die Jalousie auf und stehe einer verlassenen, mit Schneematsch bedeckten Straße zwei Stockwerke über dem Boden gegenüber.
Jetzt, wo das Licht das Zimmer durchflutet, kann ich zwei Türen erkennen. Ich gehe zur ersten und öffne sie leise; sie führt auf einen gut belichteten Flur, dessen Lampen mich blenden, auf dem mehrere Krankenpfleger herumgehen, also schließe ich sie wieder und wende mich der zweiten zu. Sie führt in ein Badezimmer. Erst als ich das Waschbecken sehe, wird mir bewusst, wie durstig ich bin. Umständlich zwänge ich den Infusionsständer durch den Türrahmen und trinke, bis mir schlecht wird.
Ich hebe den Kopf. Mir starrt ein dürres Mädchen mit müden, grauen Augen entgegen. Ihre dunkelbraunen Haare wurden kaum auf einen Millimeter abrasiert. Getrocknetes Blut verklebt einige Strähnen an ihrer Stirn. Ihr Gesicht ist mit kleinen Schnittwunden besprenkelt, die definitiv noch verbunden sein sollten. Über ihre rechte Gesichtshälfte zieht sich eine wulstige Naht, von ihrer Wange über das Auge zum Nasenrücken.
Die Narbe pulsiert. Erinnerungen erwachen wie ein im Schlaf gestörtes Monster, atmen drohende, heiße Luft. Ich kneife die Augen zu, bevor sie erwachen können.
Bullshit, denke ich. Ich bin in einem Krankenhaus, der Boden ist kalt und ich habe keine Socken an.
Ich zwänge den IV-Ständer durch den Türrahmen, lasse absichtlich dem Mädchen im Spiegel den Rücken zugekehrt und krieche zurück ins Bett.
Teil 1.3
„Glaubst du, sie war wach?“, sagt eine Stimme.
„Wer hätte sonst ihre Verbände runternehmen sollen?“, antwortet eine weitere.
„Vielleicht hat sie sich im Schlaf bewegt?“
„Sie hat kein Nickerchen gemacht, sie war im Koma.“
Langsam setzen sich die Worte in meinem Kopf zu einem Gespräch zusammen. Ein Gefühl der Dringlichkeit bringt mich dazu, meine Augen aufzuschlagen. Ja, will ich sagen, ich bin wach, doch es kommt nur ein raues Murren aus meiner Kehle.
„Wie schauen ihre Werte aus?“
„Normal… So um vier war ihr Puls kurz hoch.“
Schwerfällig hebe ich meinen Oberkörper, doch als ich meinen Kopf vom Kissen nehmen will, bleibe ich kleben und reiße Teile des Schorfs in meinem Gesicht herunter.
Eine Krankenschwester mit schwarzen, kurzen Haaren, Tattoos auf den Armen und einem freundlichen Lächeln, die gerade etwas an dem Monitor neben meinem Bett abliest, zieht Luft durch die Zähne. „Ah, das… Warte, ich hol dir ein Neues.“
„Hier“, sagt die zweite Krankenschwester, braunhaarig, ebenfalls lächelnd, die ihr zuvorkommt und mir ein Kissen reicht. „Guten Morgen! Hast du irgendwo Schmerzen?“, fragt sie freundlich.
Überall, denke ich und schüttle den Kopf.
„Kannst du dich bewegen? Arme, Beine, alle Finger?“ Ich nicke. „Gut. Ich sieh zu, dass heute schon der Venflon rausgenommen wird. Dann kannst du dich wieder richtig bewegen, ohne die ganzen Schläuche.“
Ich spüre eine Berührung am Arm und zucke zusammen. Die schwarzhaarige Pflegerin überprüft die Schläuche an meinem Arm, wahrscheinlich um sicherzustellen, dass ich in der Nacht keinen davon herausgerissen habe. Ich lese ihr Namensschild: Maja Kienzler. Auf dem Namensschild der anderen steht Isabella Grabner.
„Woher—“, krächze ich, doch meine Stimme kratzt in meiner Kehle und ich muss husten. „Woher kommen die Wunden?“, wiederhole ich.
Maja schnaubt. „Welche?“
Ich sehe an mir herunter und verziehe das Gesicht. „Alle?“
Sie nimmt das Klemmbrett aus der Halterung am Fuß des Bettes und blättert darin herum. „Verletzungen durch Schrapnell am gesamten Körper, Brandwunden ebenso am ganzen Körper verteilt, Abreibungen der Haut großflächig auf den rechten Extremitäten, Platzwunde am Kopf—“
„Okay, okay“, unterbreche ich sie. Bei der Liste wird mir etwas schlecht.
„Keine Sorge“, sagt Isabella, „Das Krankenhaus stellt dir einen Psychiater zu. Wahrscheinlich kannst du heute noch mit ihm reden, damit du alles, was passiert ist, gut verarbeiten kannst.“
Ich nicke. Maja nutzt die Gelegenheit, jetzt wo ich wach bin, um mir etwas zu Essen zu geben: Fleisch, Brot und Gemüse. Mein Magen knurrt laut. Es sieht zwar appetitlich aus, doch meine Zunge fühlt sich klobig und belegt an, und so schmecke ich kaum etwas.
Maja scheint ihre Pflichten damit erledigt zu haben, bleibt jedoch trotzdem im Krankenzimmer, während Isabella mir eine Spritze verabreicht.
„Nur eine Thrombosespritze, keine Sorge. Pikst kurz“, erklärt sie mir und wendet sich dann mit einem gespielt missbilligendem Blick an Maja. „Hast du nicht zu tun?“
„Und dich ganz alleine hier zurücklassen? Was würdest du ohne mich tun?“
„Schneller arbeiten.“
Maja lacht. Isabella verdreht die Augen.
Die beiden sind in ihrer eigenen Welt, was mir gelegen kommt, denn ich fühle mich immer noch schwammig und desorientiert. Ich sitze stumm da und hören den beiden beim Flirten zu, während Isabella meine Verbände wechselt. Die Schrapnellwunden scheinen großteils zu Schorf abgeheilt zu sein.
Mir steht nicht wirklich der Sinn danach, aufzustehen und mich zu bewegen, also lege ich mich zurück in die Kissen und schließe die Augen, sobald die beiden das Zimmer wieder verlassen. Dafür, dass ich tagelang bewusstlos war, bin ich verdammt müde. Eigentlich schlafe ich auf der Seite, aber ich will nicht, dass der Schorf in meinem Gesicht wieder aufreißt, also schlafe ich auf dem Rücken.
Der Knall eines Autos, das in ein anderes hineinkracht, reißt mich aus dem Schlaf. Erst als ich Maja mit einem Tablett Essen im Türrahmen stehen sehe, verstehe ich, dass es bloß das Geräusch der Tür war, die ins Schloss gefallen ist.
„Tut mir Leid, ich wollte dich nicht wecken“, sagt sie mit einem entschuldigenden Lächeln, „Jetzt kannst du wenigstens zu Mittag essen. Du hast nachher einen Termin mit Dr. Whitaker.“
Ich nicke und nehme das Tablett. Langsam aber sicher löst sich der Belag auf meiner Zunge, und das Essen schmeckt wieder essbar.
Isabella ist diejenige, die mich zu meinem Termin abholt. Sie führt mich durch die Gänge des Krankenhauses zu einem kleinen Besprechungszimmer. Außer einem Schreibtisch und zwei Stühlen steht nur eine welkende Zimmerpflanze in der Ecke, und ein Schwarzweißbild einer Großstadt hängt an der Wand.
Ich warte einige Minuten, in denen ich nur dem Ticken der Uhr zuhöre, dann betritt ein Mann den Raum und setzt sich, ohne mich zu begrüßen. Er legt ein Klemmbrett auf den Tisch, dann ein Tonband, das er einschaltet. Es surrt. Ich beobachte ihn.
Der Psychiater kann sich nicht entscheiden, ob er reden möchte oder nicht. Hin und wieder holt er tief Luft, als würde er zum Sprechen ansetzen, aber dann atmet er sie wieder aus, nimmt den Kugelschreiber von seinem Schreibtisch und macht sich in schmieriger Handschrift Notizen auf seinen Unterlagen.
Ich zupfe an einem der Pflaster herum, die an meiner Hand kleben. Die Naht darunter juckt und eine Ecke hat sich vor einer Weile gelöst, und seitdem kann ich es nicht mehr in Ruhe lassen.
Der Psychiater holt wieder tief Luft und legt seinen Kugelschreiber zur Seite, nur dieses Mal entscheidet er sich fürs Reden.
„Mein Name ist Dr. Whitaker. Ich bin Psychiater, und dafür zuständig, mit Patienten zu sprechen und ihre Traumata durch frühe therapeutische Sitzungen zu vermindern. Solange Sie behandelt werden, stehe ich zur Verfügung, aber nach Ihrer Entlassung ist es Ihre Verantwortung oder die eines Vormunds, die Therapiesitzungen bei einem anderen Spezialisten fortzusetzen. Diese Sitzung wird aufgezeichnet,“ sagt er und deutet auf das Tonband, „Ist das für Sie in Ordnung?“
Es fühlt sich seltsam an, gesiezt zu werden. Er sagt den gesamten Paragraph in einem Atemzug, ohne dabei zu stottern oder zu überlegen. Dafür hat er einen leichten britischen Akzent. Ich nicke.
„Sie müssen es laut sagen“, sagt er und deutet wieder auf das Tonband, „Und hier unterschreiben.“ Dr. Whitaker reicht mir ein Formular auf seinem Klemmbrett. Ich greife nach seinem Kugelschreiber, verfehle zwei Mal und werfe ihn schließlich unabsichtlich vom Tisch. Ich lächle ihn entschuldigend an. Er hebt ihn augenrollend auf, ich unterschreibe.
Dr. Whitaker sieht er mich erwartend an, seine Pupillen spähen über den Rand seiner Brille hinweg auf mich herunter. Einige Sekunden Stille streichen vorbei, dann stottere ich, „Oh— Äh, ja, es geht in Ordnung, dass die Sitzung aufgezeichnet wird.“
Wieder muss ich Husten. Seitdem ich aufgewacht bin, ist meine Kehle trocken und rau, egal wie viel ich trinke.
Er seufzt. „Gut. Damit wäre das erledigt. Fangen wir mal am Anfang an. Wenn Sie an den Unfall zurückdenken, was ist das Erste, das vor Ihrem… inneren Auge, nennen wir’s so, auftaucht?“
Ich blinzle ihn an. „Welcher—“, krächze ich schwach. Meine Stimme bricht ab. Ich räuspere mich und wiederhole, „Welcher Unfall?“
„Dachte ich mir schon…“, murrt er und hakt etwas an seinen Unterlagen ab, „Während Gefahrensituationen kann das Gehirn Erinnerungen, die es nicht verarbeiten kann, unterdrücken. Ich meine, was das früheste ist, an das Sie sich erinnern können. Sind Sie ins Auto gestiegen, haben Sie mit jemandem geredet…?“
Es wird still zwischen uns, während ich überlege.
Etwas Größeres als Angst kocht in meiner Brust. Die Erinnerung will sich an die Oberfläche kämpfen, droht, sich zu einer Welle aufzutürmen, die auf mich einstürzt. Ich unterdrücke den Geschmack, der sich nicht zwischen der Bitterkeit der Asche und dem warmen Film von Blut auf meiner Zunge entscheiden kann und zwänge die Eindrücke wieder hinunter.
„Schwärze“, sage ich langsam.
Dr. Whitaker seufzt. „Und davor?“, fragt er.
Ich schüttle den Kopf.
Dr. Whitakers genervte Langeweile verformt sich und verfliegt. Er lehnt er sich vor, Interesse auf seinem Gesicht widergespiegelt. „Hat dich hier schon jemand nach deinem Namen gefragt?“, fragt er mich.
Ich schüttle wieder den Kopf.
„Wie heißt du denn?“
Einige hohle Momente lang starre ich auf den Boden zwischen meinen Zehenspitzen. Dann gebe ich leise zu, „Ich weiß es nicht.“
„Und ich nehme an, dass die Namen deiner Eltern oder Geschwister kennst du auch nicht.“
„Ich hab Geschwister?“
Dr. Whitaker lächelt, aber es sieht gezwungen aus. „Du hattest einen Bruder.“
„Hatte?“
Sein Lächeln bröckelt. Alles, was bleibt, ist das Mitleid.
„Du… du hattest ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, eine geschädigte Wirbelsäule, breitflächige Verbrennungen, innere Blutungen, mehrere gebrochene Knochen, und…“, sagt er und gestikuliert vor seinem Auge herum, „Du warst zwölf Tage lang im Koma. Wir waren uns nicht einmal sicher, ob du wieder aufwachst.“ Er presst die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. „Deine Familie hatte nicht so viel Glück.“
Inmitten des Raums, der für Bequemlichkeit zu leer ist, fühlt sich plötzlich alles unwirklich an. Ich habe das Gefühl, dass mir schwindlig sein sollte, doch der Raum dreht sich nicht. Vielmehr schält er sich von sich selbst, kräuselt sich wie ein Streifen Tapete.
Die Stille ist zu laut und erst einige Sekunden später bekomme ich mit, dass Dr. Whitaker etwas gesagt hat.
„…was?“
„Du hast wahrscheinlich retrograde Amnesie. Wegen deinem Schädel-Hirn-Trauma kann es passiert sein, dass du dich nicht mehr daran erinnerst, was vor dem Unfall passiert ist.“
Ich nicke. Mein Kopf schwirrt. Ich höre zwar, was Dr. Whitaker sagt, aber es kommt nicht an. Mir ist speiübel.
Dr. Whitaker legt seine Hand auf meine und seine Lippen formen Worte. Sie bedeuten wahrscheinlich etwas anderes, etwas Wichtiges, aber in meinem Kopf hallt bloß Deine Familie hatte nicht so viel Glück, immer und immer wieder.
Ich senke meinen Kopf und fahre mir mit der Handfläche über das Gesicht. Mir steht Schweiß auf der Stirn, aber mir ist eiskalt.
„Ich muss kotzen.“
Whitaker drückt auf einen Rufknopf hinter ihm, während ich versuche, mich zwischen trockenem Würgen zusammenzureißen. Isabella betritt das Besprechungszimmer. Dr. Whitaker sagt etwas, sie antwortet, jemand drückt mir einen Kübel in die Hände, und dann verliere ich das, was ich heute Morgen erst gegessen habe.
Isabella streichelt mir über den Rücken, bis ich wieder Luft bekomme.
„Ich glaube, das ist genug für heute…“, seufzt sie.
Deine Familie hatte nicht so viel Glück.
Für einen Moment zwängt sich mir das Bild von Feuer, von Blut und Glasscherben auf. Ich kneife die Augen zusammen und schüttle den Kopf, bis es endlich weggeht. Das Klingeln in meinen Ohren wird lauter.
Isabella hilft mir auf und führt mich zurück in das Krankenzimmer, wo sie mich auf das Bett setzt. „Ruh dich aus. Es war ein bisschen viel auf einmal“, sagt sie besorgt. Ich nicke geistesabwesend. Sie verlässt den Raum.
Ich falle nach hinten auf die Matratze und starre passiv die Decke an. Mein Mund schmeckt zwar widerlich, aber meine Glieder weigern sich, sich zu bewegen, also vergrabe ich meinen Kopf in den Kissen, bis mich die Erschöpfung einholt.
Teil 1.4
Die Räume des Hospitals sehen alle gleich aus. Alle mit weißen Wänden, gekacheltem Boden und demselben, sterilen Geruch. Das einzige, was sich jedes Mal verändert, sind die Maschinen.
Bei der Ersten kleben ein Arzt und ein Assistent Kabel an meinen Körper. Die Sonden sind eiskalt und ich verstehe die Ergebnisse nicht, aber anscheinend wollen sie sichergehen, dass die Amnesie das Einzige ist, was mit meinem Gehirn schiefgelaufen ist. Die zweite ist weitaus kleiner und die Sonden werden nur auf meinen Arm geklebt. Mir ist aufgefallen, dass ich viele Muttermale auf meinen Schultern habe. Nach den Messungen werde ich wieder in mein Zimmer begleitet, wo eine Weile später die Fäden gezogen werden. Die hunderten kleinen Schrapnellwunden scheinen bereits einigermaßen verheilt zu sein, nur die große Naht im Gesicht ziehen sie noch nicht. Mittlerweile juckt sie höllisch.
Ich vertreibe meine Zeit entweder damit, auf dem halblaut gedrehten Fernseher Cartoons zu schauen oder zu dösen. Die ganze Zeit über betreten nur Maja und Isabella den Raum, was ich seltsam finde. Dass nur die beiden mich betreuen hat wahrscheinlich denselben Grund, wieso ich in einem Einzelzimmer liege.
Gegen Abend bringt Maja wieder Essen, nur dieses Mal bin ich wach und habe Fragen.
„Wann kann ich wieder heim?“
Maja zögert, stellt das Tablett ab und wechselt mit Isabella, die sie aus einem mir unersichtlichen Grund begleitet, einen Blick. Isabella lächelt mich an. „Bald, da bin ich mir sicher. Die Testergebnisse werden ausgewertet, danach hast du noch ein psychologisches Gespräch, und wenn alles normal ist, wirst du entlassen.“
„Wenn wir schon darüber reden…“, sagt Maja.
„Du hättest es fast vergessen, oder?“
„Isa, wie kannst du mir nur so etwas vorwerfen— Ja. Ja, hätte ich.“
Sie geht auf den Flur und kommt einige Minuten darauf mit einem Stapel Kleidung wieder. „Tada! Einige von meinen alten Sachen, die mir nicht mehr passen!“
Ich nehme den Stapel verwirrt entgegen. „Danke, aber wieso holt nicht jemand aus meinem Zuhause meine eigenen Sachen?“
Maja und Isabella wechseln wieder einen Blick. Maja zuckt schlussendlich mit den Schultern, „Wir dürfen ja nicht hin. Ist ja immer noch dein Zuhause.“
Ich gehe die Kleidung durch. Alles ist zwar etwas zu groß, aber es ist nicht so, als könnte ich mich beschweren.
Ich schlafe die Nacht unruhig und träume viel, schlafe aber nie genug Stunden am Stück, um mich wirklich daran zu erinnern.
Den nächsten Morgen über kommt hin und wieder Isabella vorbei, um nach mir zu sehen, doch außer dem Jucken sind meine Wunden vollkommen in Ordnung, mit Ausnahme einer an meinem Arm, von der ich den Schorf abgekratzt habe, die wieder blutet. Vormittags werde ich abgeholt, um meine Hand zu röntgen, was ich seltsam finde, denn ich glaube nicht, dass sie gebrochen war.
Gegen Nachmittag kommt endlich der Termin mit Dr. Whitaker. Wieder dasselbe Büro. Die Zimmerpflanze sieht noch welker aus.
„Guten Tag. Ich hoffe, Sie konnten sich einigermaßen erholen.“
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Jetzt Siezt er mich wieder, nachdem er beim letzten Mal per Du war?
„Gießen Sie das Ding eigentlich auch mal?“
Er blinzelt. Ich deute auf die Pflanze. Er verzieht das Gesicht.
„Ich versichere Ihnen, dass ich das gleich nach unserer Sitzung tun werde.“
„Und vielleicht in die Sonne stellen.“
Er seufzt. „Meinetwegen. Kommen wir aufs Thema. Ihre Testergebnisse waren weitestgehend unauffällig. Ihre Werte sind im Normalbereich und wir konnten keinen neurologischen Schaden feststellen, der weitere Behandlung benötigt.“
„Das ging schnell.“
„Du bist ein Prioritätsfall.“ Er belässt es dabei.
„…und?“
„Das bedeutet, dass eine Entlassung möglich ist.“
Sofort sitze ich aufrecht da. „Wirklich? Ich darf nach Hause?“
Whitaker hebt eine Hand, „Nicht ganz. Entlassung ist möglich. Aber…“ Er seufzt, schiebt seine Brille seine Nase hoch und liest kurz von seinem Klemmbrett. „Wir kennen deine Identität nicht und können daher dein Alter nicht eindeutig bestimmen. Es besteht Verdacht mit starken Indikationen, dass du minderjährig bist, und wir können dich nicht ohne einen Vormund entlassen.“
Ich lege den Kopf schief. „Und… was bedeutet das?“
„Das bedeutet, dass du in ein Jugendheim kommst, bis die Sache mit deiner Identität geklärt ist.“
Ein saurer Geschmack breitet sich auf meiner Zunge aus. „Ich will nach Hause.“
Whitaker seufzt, „Deine Identität ist eine Sache für die Behörden, da kann ich nichts ausrichten. Ob ein Hausbesuch möglich ist, weiß ich auch nicht, da kann ich nicht weiterhelfen.“
Ich presse die Lippen zusammen und sinke zurück in den Sessel.
Wie lange soll ich noch warten?
„Ich weiß, dass die Situation ungünstig ist, aber wir könnten dich, selbst wenn du Volljährig wärst, nicht einfach auf die Straßen werfen. Das verstehst du, oder?“
Ich nicke.
„Gut. Dann brauche ich von dir nur noch eine Unterschrift.“
„Wenn ich minderjährig bin, gilt der Vertrag dann überhaupt als rechtsgültig?“
Dieses Mal schaffe ich es sogar, Whitakers Mundwinkel zum Zucken zu bringen. „Wir brauchen trotzdem dein Einverständnis.“
Dieses Mal reicht er mir den Kugelschreiber, bevor ich ihn wieder auf den Boden werfen kann. Ich unterschreibe.
„Es sollte morgen, spätestens übermorgen soweit sein. Sie können ihre Sachen packen, wenn Sie wollen.“
Whitaker streckt die Hand aus.
„Also dann. Es war es eine Freude, mit Ihnen zu arbeiten.“
„Welche Arbeit habe ich denn gemacht?“, frage ich und schüttle seine Hand.
Er verdreht lächelnd die Augen. „Viel Glück, und einen schönen Tag noch.“
Ich grinse. „Schönen Tag, Doktor.“
Teil 1.5
Am nächsten Tag bin ich gerade beim Mittagessen und schaue eine Episode einer Talkshow im Fernsehen, bei der eine Frau einen Mann des Betrugs bezichtigt, als jemand gegen den Türrahmen klopft und sie bei ihrer Schimpftirade unterbricht. Ich drehe die Lautstärke hinunter.
„Hm? Ja?“
Maja steht in der Tür und winkt mir zu. Bei ihr steht ein Mann, mit den grauen Strähnen in den Haaren würde ich ihn auf um die fünfzig schätzen. Er räuspert sich und zeigt ein Abzeichen her. „Inspektor Danzinger“, stellt er sich vor, „Ich soll dich eskortieren.“
Ich stehe auf und halte ihm eine Hand hin. Er schüttelt sie.
„Freust du dich schon?“, fragt Maja optimistisch.
Ich lächle. „Ja“, sage ich einfach. Zwar bin ich froh, das Krankenhaus endlich hinter mir lassen zu können, aber mir wäre es lieber, nach Hause zu gehen.
„Gut. Alles bereit?“
Ich greife eine Plastiktüte voll Kleidung und nicke. Maja, er und ich gehen auf den Flur, wo Isabella gerade beim nächsten Zimmer Essen serviert. Sie winkt mir zu, „Tschüss, Kurze! Viel Glück da draußen!“
Ich winke zurück, dann gehe ich am Servierwagen vorbei und greife eine Handvoll Zuckerpäckchen und stecke sie ein. Maja wuschelt mir durch das, was von meinen Haaren noch übrig ist.
„Tschau, und nicht zu viel Ärger machen, ja?“
„Ich kann nichts versprechen.“
Inspektor Danzinger räuspert sich laut. Er steht mit verschränkten Armen gegen die Wand gelehnt und trommelt mit seinen Fingern auf seinem Oberarm herum. Maja grinst mich noch einmal kurz an und klopft mir auf den Rücken, dann gehe ich mit Inspektor Danzinger.
Die Korridore sind lang und sterilweiß, wie der Rest des Krankenhauses. Unter unseren Schritten wiederholt sich dasselbe Muster von grauweißen Fliesen, in denen sich die Neonröhren spiegeln, die immer etwas zu hell fürs Auge sind. Wir gehen an Zimmern und Pflegern und Ärzten vorbei, bis wir an einem Ausgang ankommen.
Draußen schlägt mir die Kälte wie eine Wand entgegen. Gänsehaut jagt meine Arme hinauf. Ich grabe in der Plastiktüte, bis ich einen Pulli finde. Ich ziehe ihn an und setze die Kapuze auf.
Nach so langer Zeit in monotonen Zimmern unter künstlichen Lichtern fühlt es sich seltsam an, draußen zu sein. Mit zusammengekniffenen Augen starre ich zur blassen Sonne hoch, die kaum genug Kraft hat, um durch die Wolken zu scheinen.
„Kommst du?“, ruft Inspektor Danzinger mir zu, an die geöffnete Autotür eines Polizeiautos gelehnt.
Für die ersten zehn Minuten ist es aufregend, zum ersten Mal— ich nehme an, zum ersten Mal— in einem Polizeiwagen zu sitzen. Zwar nicht hinten, hinter dem Gitter, wo normalerweise die Kriminellen sitzen, aber die Nahansicht der ganzen Knöpfe, des Radios mit dem Funkgerät und der verstohlene Blick in das Handschuhfach, wo Handschellen und Munition liegen, machen es allemal wett. Während Inspektor Danzinger einsteigt, drehe ich mich auf dem Sitz kniend um und sehe durch das Gitter zur Rückbank. Der Geruch nach Kupfer und die rostbraunen Flecken auf einem der Sitze und auf dem Gitter verraten mir, wieso ich vorne sitze.
Vor dem Gelände steht eine kleine Ansammlung an Leuten mit Kameras und Mikrophonen, Schreibblöcken und Stiften. Ein Lichthagel aus Kamerablitzen schlägt auf uns ein. Jeder Lichtblitz tut mir in den Augen weh, ich halte den Arm davor und versuche, die Gesichter der Leute zu erkennen.
Warum haben die so viel Interesse an mir? Hat Whitaker das mit Prioritätsfall gemeint?
„Warum dürfen die überhaupt Fotos von mir machen?“
„Keine Sorge. Die Scheiben sind getönt. Muss schon ein guter Schuss sein, damit die das verkaufen können“, sagt Inspektor Danzinger und fährt vom Parkplatz. Er sieht genervt aus dem Fenster den Personen entgegen und hupt zwei von ihnen an, die am Fußgängerübergang stehengeblieben sind. „Presse-Arschlöcher“, flucht er laut und beschleunigt über die Geschwindigkeitsbegrenzung hinaus.
Die Stadt zieht in einem nahtlosen Band an uns vorüber. Wir brauchen etwa zwanzig Minuten, bis das Auto hält und Inspektor Danzinger aussteigt. Ich folge ihm.
Das Jugendheim sieht prunkvoller und älter aus, als ich es mir vorgestellt habe. Im ersten Moment hätte ich es mit einer Villa verwechselt, würde kein Gelächter und die Stimmen von mehreren Kindern auf einmal durch die offenen Fenster kommen.
Die Tür öffnet sich mit einem leisen Quietschen. Inspektor Danzinger klopft an den Türrahmen, wie er es im Krankenhaus getan hat. Einige der Kinder, die meisten wahrscheinlich kaum älter als sechs oder sieben, bleiben auf ihrem Weg durch die Korridore stehen und bestaunen Inspektor Danzingers Uniform. Einige kommen näher. Erst als die Aufseher, einige davon Nonnen, sie freundlich weiterscheuchen, sind die Kinder aus ihrer staunenden Trance gelöst und gehen wieder ihren tagtäglichen Aktivitäten nach.
„Inspektor Danzinger?“ Eine füllige, ältere Dame mit grauen Strähnen in ihren schwarzen Haaren kommt aus einem der Nebenräume, ein höfliches, aber reserviertes Lächeln auf ihrem Gesicht.
„Schwester Martha?“, fragt Danzinger.
„Ist leider verhindert“, antwortet die Dame, „Ms. Elsie. Ich soll für sie einspringen“, stellt sich die Dame vor und schüttelt seine Hand. Sie sieht zu mir herunter. „Und wie darf ich dich nennen, Kleine?“
Inspektor Danzinger schüttelt den Kopf und antwortet an meiner Stelle, „Anscheinend ein heikles Thema. Sie weiß es auch nicht.“ Ms. Elsie sieht ihn verwirrt an, er zuckt mit den Schultern. „Amnesie. Sie hat einen— oder zwei— ziemlich üble Schläge auf den Kopf abbekommen.“
„Oh… Braucht man für so etwas nicht einen Therapeuten?“
„Vom Psychologen gibt’s noch eine Empfehlung.“
„Und wann bekomme ich die Empfehlung?“
Inspektor Danzinger reicht ihr einen Stapel Papiere. „Mit dem Rest der Dokumente.“
„Und wann kann ich die erwarten?“
Ich verliere das Interesse an ihrem Gespräch komplett, als ich bemerke, dass einer der Zuschauer stehen geblieben ist. Ein Mädchen mit braunen Haaren, das etwa so alt ist wie ich. Sie starrt aber nicht Inspektor Danzinger an, sondern mich. Zögerlich hebt sie ihre Hand. Als ich zurückwinke, breitet sich ein riesiges Grinsen auf ihrem Gesicht aus.
Inspektor Danzinger und Ms. Elsie diskutieren immer noch über Papierkram und ich entscheide prompt, dass mir das zu langweilig ist. Ich schleiche an Ms. Elsie vorbei, aber selbst wenn ich gestampft wäre, hätte sie mich nicht bemerkt.
„Bist du die von der Zeitung? Die lebende Jane Doe?“, platzt das Mädchen sofort heraus.
„…dir auch Hallo.“
„Ich heiß Olivia“, sagt sie, „Bist du No-Name? Oder nicht?“
„Ich- No-Name?“
Sie deutet mir, ihr zu folgen, und geht in eines der angrenzenden Zimmer. Es ist ein großer Aufenthaltsraum, der mit kleinen Gruppen von Kindern befüllt ist. Manche sitzen an Tischen und spielen Karten- oder Brettspiele, andere sitzen auf dem Boden, einige stehen redend herum. Olivia nimmt eine Zeitung von einem der Bücherregale, die an die Wände geschoben stehen, und deutet auf einen der Artikel.
WUNDERMÄDCHEN NO-NAME IST AUFGEWACHT
„Die Presse hat dich so getauft. Stimmt das, dass du dich an nichts erinnern kannst? Eine Freundin von mir hat gesagt, dass das nur in Filmen so ist.“
Ihre Worte verlieren mehr und mehr ihre Bedeutung, während ich den Artikel durchlese. Sie schreiben, als wäre ich eine Prominente. Nein, sie schreiben, als wäre ich eine Zirkusattraktion. Es wird über meine Gesundheit spekuliert, über meinen Verbleib, darüber, an was ich mich noch erinnern kann. Sie reden von „zuverlässigen Quellen“, aber soweit ich mich erinnern kann, haben mich die ganze Zeit nur die Ärzte gesehen, die einzelne Untersuchungen an mir durchgeführt haben. Sonst nur Maja und Isabella.
Oh.
Die Erkenntnis sticht, doch die letzten beiden Sätze des Artikels sind das, was mich zum Stocken bringt.
„Ob sie zu der Familie von drei gehörte, mit der sie im Unfallauto saß, ist weiterhin unbestätigt. Das Interesse an einem DNA-Test wird täglich größer, jedoch kann ohne ihre Zustimmung keiner angestellt werden.“
„Was soll das heißen?“, unterbreche ich Olivias Gerede und deute auf die letzten Zeilen.
„Was meinst— Hat dir das noch niemand erzählt?“, unterbricht sie sich selbst.
Ich verziehe das Gesicht. „Ich hab das Gefühl, es will überhaupt niemand mit mir reden.“
Im Krankenhaus hat mich niemand nach meinem Namen gefragt. Niemand hat mir erzählt, was mit meiner Familie passiert ist, bis sich Dr. Whitaker verredet hat. Und jetzt ist meine Familie angeblich nicht einmal meine Familie?
„Angeblich sagen die Nachbarn, dass es immer nur drei Leute waren. Vater, Mutter, Sohn. Keiner von ihnen weiß etwas von einer Tochter“, erklärt Olivia und sieht mich dabei verdächtigend an, als würde ich die Antwort wissen.
„Da bist du! Lauf nicht einfach weg, wenn ich beschäftigt bin“, unterbricht uns die strenge Stimme von Ms. Elsie. Sie seufzt und stemmt die Hände in die Hüften. „Hört mal, Mädels, es freut mich, dass ihr euch schon anfreundet, aber Inspektor Danzinger hätte sich gerne verabschiedet.“
Ich bezweifle es, sage aber nichts.
„Wenn du schon da bist, Liv“, redet sie weiter, „kannst du ihr ja gleich den Rest vom Heim zeigen, ja? Ich bin beschäftigt.“ Sie wedelt mit einem kleinen Stapel Papieren herum.
„Mach ich gerne“, sagt Olivia, nimmt mir die Zeitung wieder aus der Hand und wirft sie zurück aufs Regal. Während Ms. Elsie ins Innere des Gebäudes verschwindet, zerrt sie mich an der Hand durch die Gänge und deutet auf Türen.
„Das sind nur die Schlafstätten— wahrscheinlich kommst du in 3B, da sind noch Betten frei— da drüben sind die Badezimmer— hier drüben ist die Küche, gleich daneben die Kantine— da ist der Aufenthaltsraum, gleich daneben der Hauptsaal…“
Eigentlich sollte ich ihr zuhören, doch während sie mich durch die Flure führt, fällt mir immer wieder unangenehm auf, wie viele von den Leuten hier mich anstarren. Vielleicht sieht mein Gesicht im Moment nicht gerade perfekt aus, aber ich bin keine verdammte Attraktion.
Während Olivia kurz vor einem der Säle anhält, um kurz mit einem anderen Mädchen darin zu reden, glotzt ein kleiner Junge mich an. Ich starre mit angepisster Miene zurück. Er sieht es als Einladung, zu mir zu gehen und laut zu fragen, „Was ist denn mit deiner Fresse passiert?“
Ich blinzle ihn an. Er blinzelt zurück, versteht anscheinend, dass er darauf von mir keine Antwort bekommt und fragt stattdessen, „Mein Freund hat mir erzählt, dass du blöd bist.“
Ich spüre Hitze meinen Hals hinaufkriechen. „Was?“
„Er hat gesagt, du hast Hirnschaden“, sagt er, „Das heißt, du bist blöd.“
„Das heißt, dass ich Gedächtnisverlust habe“, sage ich, und dann leiser, „Du Trottel.“
Ein Tippen an meiner Schulter. Ich drehe mich um. Hinter mir steht ein Mädchen, etwas älter als der Junge. „Stimmt das, was die sagen?“
„Was wer sagt?“
„Die Zeitungen.“
„Äh… kommt drauf an. Was genau meinst du?“
Eine Hand nimmt meine. Olivia schiebt sich zwischen mich und den beiden Kindern. „Könnt ihr sie vielleicht nicht gleich mit Fragen bombardieren? Danke.“
Ich verkneife mir leicht grinsend einen Kommentar, dass sie genau dasselbe gemacht hat.
„Wir müssen uns noch das Heim anschauen“, sagt sie laut und betont und zieht mich an der Hand mit.
„Danke“, sage ich lächelnd.
„Die sind immer ein bisschen übereifrig“, sagt sie grinsend, „Komm, ich bring dich in den Schlafsaal. Dort ist es normalerweise ruhiger.“
Teil 1.6
Die Nacht kommt schnell.
Ich lande in der oberen Etage eines der Stockbetten. Ms. Elsie hat es sich zur Verpflichtung gemacht, mich persönlich meinem neuen Schlafplatz vorzustellen. Sie bringt eine Tasche von Hygieneartikeln und einen kleinen Stapel Klamotten mit, damit ich außer Maja’s alten Sachen auch etwas Wechselkleidung habe. Sie sortiert beides pflichtbewusst in mein Nachtschränkchen ein.
„Natürlich habe ich versucht, mit Inspektor Danzinger zu reden“, sagt sie mehr zu sich selbst als zu mir, „Aber er hat mir eindeutig gesagt, dass niemand Kleidung aus deinem Zuhause holen darf. Natürlich gab es dafür keine Erklärung. Nicht seine Devise.“
Meine Handflächen fühlen sich bei ihren Worten seltsam verschwitzt an. Irgendwo sind vier Wände, die vielleicht mein vergangenes Leben in sich halten. Mein Zuhause. Ein Beweis dafür, ob ich zu der Familie gehört habe oder nicht. Das einzige Ding auf der Welt, das mir die Chance geben könnte, mich zu erinnern, und ich bin ausgesperrt.
„Es ist ja heuchlerisch, wie die das anstellen. Erst sagen sie, dass sie dir helfen wollen—“ Sie wedelt mit einem der Kleidungsstücke herum, anscheinend so in ihr Geschimpfe vertieft, dass sie nicht bemerkt, dass es Höschen sind, „und sagen dir dann, dass du dein eigenes Zuhause nicht besuchen darfst!“
Nur, dass ich nicht weiß, ob es mein Zuhause ist. Wenn weder die Nachbarn etwas wissen, noch die Journalisten irgendwelche Bilder oder Dokumente gefunden haben, die mich mit ihnen verbinden, kann ich es nicht sicher wissen. Es macht es sogar sehr unwahrscheinlich.
Ich suche nach den emotionalen Verbindungen zu einer Mutter, einem Vater, zu einem Bruder in meinem Kopf, aber nichts antwortet und es frustriert mich, bis ich Kopfschmerzen bekomme. Noch dazu bedeutet das, dass ich nicht weiß, was mir bevorsteht. Wenn das wirklich meine Familie war, werde ich extreme Probleme haben, mich wieder in mein Leben einzufinden. Mich daran zu erinnern wird bereits schwer genug werden, aber wenn es stimmt, dann ist der Großteil meines Lebens ohnehin bereits gestorben. Dass mich niemand erkannt hat lässt mich schätzen, dass ich entweder keine Freunde habe, die diese Lücke füllen könnten, oder das, wovor ich Angst habe: dass ich mit keiner Person in diesem Auto verwandt war, dass meine echte Familie immer noch dort draußen ist. Wenn ich zu den Toten gehöre, dann hätte ich wenigstens ein Haus geerbt. Aber wenn sie es nicht sind? Wenn ich durch Zufall in dem Auto war, ein Anhalter? Dann müsste ich meine Familie finden, meine echte Familie.
Ich war mehrere Tage lang im Koma. Meine Geschichte ist überall verbreitet worden. Dass sich bis jetzt niemand gemeldet hat und ich bei drei Fremden im Auto gesessen bin, lässt mich einiges erahnen, was diese hypothetische Familie angeht.
„Es ist ihm einfach egal!“, sagt Ms. Elsie laut und reißt mich damit aus meinen Gedanken.
„Ms. Elsie?“
„Ja?“
„Sie verwenden einen BH als Flagge.“
Sie wird rot um die Wangen, legt ihn in die Schublade und schiebt sie stärker zu, als nötig gewesen wäre.
„Sieh zu, dass du bis neun Bettfertig bist, dann gehen die Lichter aus“, sagt sie, richtet sich auf, streicht eine unsichtbare Falte aus ihrem Rock und lässt mich mit Olivia und drei weiteren Mädchen alleine. Sie sitzen in einer Gruppe zusammen und reden. Ich drehe den Rücken zu ihnen und ziehe die Knie an die Brust.
Schnelle Schritte kommen aus dem Flur, dann schlittert ein älteres Mädchen in den Schlafsaal. „Badezimmer sind leer! Kommt schon, bewegt eure Ärsche!“
Olivia und der Rest springen auf, schnappen ihre Necessaires und laufen auf den Flur. Verwirrt klettere ich vom Stockbett und sehe ihnen hinterher, nehme dann ebenfalls meine kleine Tasche und folge ihnen.
Es gibt weniger Badezimmer als Bewohner. Als ich ankomme sind alle besetzt, also lehne ich mich an eine Wand und warte. Alle andern verbringen die Zeit damit, miteinander zu reden. Ich starre auf den Boden und versuche meine Gedanken vom Wandern abzuhalten.
Irgendwann wird ein Zimmer für mich frei.
Ich schließe die Tür des winzigen Bads hinter mir ab. Die Wände sind mit Wasserschäden besprenkelt, die lauwarmen Fliesen unter meinen Füßen sind verkalkt. Eine Dusche nimmt den Großteil des Raumes ein und der Rest wird von einem Waschbecken und einer Toilette geteilt. Das Glas der Dusche ist beschlagen und jemand hat einen Smiley und ein Herz in den Nebel auf dem Spiegel gemalt.
Ich werfe meine Badezimmertasche auf den Rand des Waschbeckens, wische mit der Hand über den Spiegel und bereue es sofort. Die wulstige, gerötete Naht auf meinem Gesicht sieht nicht besser aus als das letzte Mal. Der Anblick stichelt dem Monster in die Seite, das aufatmet und droht, mich mit unangenehmen Erinnerungen zu bespucken.
Ich schmecke Eisen.
Ich wende mich vom Spiegel ab, beeile mich beim Zähneputzen, ziehe mich aus und fange damit an, all die Pflaster herunterzureißen, die noch auf meinem Körper kleben. Immer wieder blinken mir verschorfte Wunden entgegen, oder neue Blutungen, wo ich gekratzt habe. Manchmal bewege ich mich falsch und meine Rippen knirschen schmerzhaft, meine linke Schulter sticht, oder eines meiner Fußgelenke knackt besorgniserregend laut.
Das Wasser ist eiskalt und wird nur langsam wieder warm. Ich halte meine Zeit in der Dusche kurz.
Als ich das Bad verlasse, bin ich alleine auf den Fluren. Ich gehe barfuß zurück zum Schlafsaal, wo Olivia und die anderen Mädchen wieder reden. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass erst in einer Viertelstunde die Lichter ausgehen; trotzdem klettere ich zurück ins Bett. Mein Magen knurrt, aber ich ich weiß nicht, woher ich jetzt noch Essen herbekommen soll, also krame ich in meiner Tasche und esse zwei der Zuckerpakete, die ich habe mitgehen lassen.
Eine Weile später gehen die Lichter mit einem hohlen, metallenen Schnalzen aus. Die Gespräche verstummen mit der Zeit. Die einzige Quelle von Licht, die bleibt, ist der dünne Lichtstrahl, der unter der geschlossenen Tür hindurchfällt. Ich erkenne Schemen, Silhouetten, ruhige Körper in der Dunkelheit deren Brustkörbe sich mit regelmäßigem Atem heben und senken. Man könnte eine Stecknadel fallen hören. Statt einer Nadel sind die Geräusche das langsame Atmen meiner Mitbewohnerinnen und das gelegentliche Ächzen des Gebäudes. Ich lege mich hin und ziehe die Decke bis zum Kinn.
Es läuft irgendein schnelles Lied im Radio. Der Mann im Vordersitz singt mit. Die Frau am Steuer summt leise, scheint aber dem Mann zuhören zu wollen. Der Junge neben mir übt gerade, wie man im Takt schnippt. Dann Kreischt das Radio. Aber es ist gar nicht das Radio, das gekreischt hat, sondern das Feuer. Und es ist auch nicht das Feuer, sondern der Tinnitus, den ich habe, während ich von dem Autowrack begraben in einem Haufen Glasscherben liege. Obwohl das Feuer leise ist, ist es immer noch schmerzhaft, und es klammert sich an meine Kleidung, dann an meine Haare, und mein Gesicht ist warm, aber nicht wegen den Flammen. Ich versuche zu schreien.
Ich hebe meinen Kopf und sehe Licht.
Rauer Stoff zerkratzt die Haut zwischen meinen Fingern, kalter Schweiß steht auf meiner Stirn. Plötzlich wird alles so hell, dass ich für einen Moment zusammenzucke und winsle.
„Alles okay?“
Ich erkenne die Stimme später, als ich sollte. Olivia will meine Hand nehmen, aber ich zucke zurück. Mein Hals schmerzt.
Habe ich geschrien?
„Hey. Geht’s dir gut? Wir können einen Aufseher holen, wenn du willst.“
Ich beiße mir auf die Zunge, presse die Lippen zusammen und schüttle den Kopf.
„Nein“, sage ich zu hastig, „Geht schon wieder.“
„Sicher?“
Ich nicke, blinzle rapide, doch meine Augen brennen trotzdem. Sie klettert wieder die Leiter hinunter und sieht fragend nach oben, oder vielleicht besorgt, aber ich sehe nicht zurück. Stattdessen zerre ich die Decke über meinen Kopf, damit die anderen endlich aufhören, mich anzustarren.
Ich höre Geflüster. Das Licht der Nachttischlampe, das durch die Fasern der Decke scheint, erlischt und taucht den Saal zurück in Dunkelheit. Nacheinander verstummen die Unterhaltungen— die Unterhaltungen über mich— und erst als ich mir sicher bin, dass niemand mehr wach ist, presse ich mein Gesicht ins Kissen und weine.
Teil 1.7
Mein Tag beginnt mit Déjà-vu: Ich liege im Bett und tue so, als würde ich schlafen.
„Hören Sie, ich habe meine Anweisungen. Glauben Sie, ich darf dort hin? Ich soll nur Geleitschutz sein, sonst nichts.“
„Und ich sollte eigentlich auch nur Essen, Trinken und ein Dach über dem Kopf bereitstellen, aber ich habe eine Verantwortung gegenüber von diesen Kindern.“
Vor dem Fenster geht gerade die Sonne auf und wirft bleiches Licht in unseren Schlafsaal. Das Licht, das unter dem Türspalt leuchtet, ist weitaus greller und die Stimmen dahinter lauter, als sie sein sollten. Nicht wütend, aber hörbar gereizt.
„Ich kann auch nichts dafür. Ich hab’ die Regulierungen nicht bestimmt“, sagt eine gedämpfte, männliche Stimme, die ich als Inspektor Danzingers erkenne.
Ich hebe meinen Kopf vom Kissen und höre genauer hin. Durch die Tür ist es fast unmöglich, sie zu verstehen, was mich froh darüber macht, dass meine Mitbewohner noch schlafen.
„Sie könnten doch wenigstens mit Ihrem Vorgesetzten reden, oder?“, fragt die Stimme von Ms. Elsie. Ein tiefes Seufzen seinerseits. „Dieses Kind hat vielleicht ein Leben dort draußen, und ich will, dass darauf eingegangen wird! Wie schwer kann es denn sein, eine kleine Haustour zu veranlassen?“
„Nicht meine Devise.“
„Wie können Sie nur so apathisch sein?“
Schwere Schritte entfernen sich von der Tür. Ms. Elsies leichtere folgen und ihre Unterhaltung verstummt mit wachsender Entfernung. Hastig klettere ich aus dem Bett, schleiche zur Tür und presse mein Ohr dagegen, doch ihre Worte sind unverständlich geworden.
„Ist was?“
Ich zucke zusammen. Olivia hat sich im Bett aufgesetzt und wischt sich den Schlaf aus den Augen.
„Dachte nur, dass ich was gehört habe“, murmle ich verlegen.
„Hey, wenn wir schon wach sind, sind wir wahrscheinlich die Ersten“, sagt sie mit einem müden Lächeln und fischt Anziehsachen aus ihrem Schränkchen. „Wir haben bestimmt Warmwasser. Komm.“
Die Flure sind verlassen. Wäre ich alleine hier und würde nicht wissen, dass hinter jeder Tür Leute sind, hätte ich vermutet, dass es spukt. Olivia und ich laufen auf leisen Sohlen in Richtung der Badezimmer. Auf halbem Weg höre ich wieder Ms. Elsie und Inspektor Danzinger.
„Was ist?“, fragt Olivia. Ich lege einen Finger auf die Lippen. Einzelne Wortfetzen sind verständlich.
„Wir sollten nicht lauschen“, flüstert Olivia und zieht an meinem Ärmel. Ich zögere, aber sie lässt meinen Ärmel nicht wieder los, also folge ich ihr zu den Badezimmern.
Ich vermeide den Spiegel, beeile mich bei allem. Insgeheim hoffe ich, dass ich schnell genug bin, um Ms. Elsie und Inspektor Danzinger noch belauschen zu können, doch während am Flur draußen mehr und mehr Schritte und Stimmen aufleben, schwindet diese Hoffnung. Als ich die Tür öffne warten mehrere schläfrige Mitbewohner darauf, dass ein Bad frei wird. Ihre Unterhaltungen ertränken jegliche andere Geräusche.
Mich stupst jemand an. „Da bin ich!“
Olivia grinst. Ich grinse zurück. Mein Magen knurrt.
„Wann gibt’s eigentlich Essen?“, frage ich sie.
„Abendessen ist um sechs, Mittagessen um halb zwei und Frühstück ist jetzt.“
Sie führt mich zur Kantine, wofür ich ihr dankbar bin, denn ich habe von ihrer gestrigen Tour nicht viel mitbekommen. Wir setzen uns nebeneinander hin, reden etwas, aber ich bin hauptsächlich aufs Essen konzentriert, also übernimmt sie den Großteil unserer Unterhaltung.
Je mehr sich die Kantine füllt, desto mehr Blicke spüre ich, die an mir hängen bleiben. Einige von den Leuten um mich erwische ich beim Tuscheln.
„Ignorier sie“, sagt Olivia. „Du hast selbst gesehen, dass sie Aufmerksamkeit nur motiviert.“
„Ich versuch’s, aber es ist unangenehm.“
Sie lächelt mitleidig. „Das klingt schon noch ab. Sieh’s doch so, wenigstens bist du berühmt!“
Sie meint es gut, aber es muntert mich nicht auf. Es ist eine lokale Art von Ruhm. Die Art, die man nicht will. Die Art, die man sich nicht verdient hat. Ich fühle mich wie eine Ameise unter einem Vergrößerungsglas.
Das Geräusch eines zündenden Feuerzeuges lenkt mich ab. Kurz denke ich, dass es seltsam ist, dass jemand hier drin rauchen darf, dann finde ich die Hände, die das Feuerzeug halten. Sofort ist mein Interesse geweckt: Die Narben auf seinen Fingern sehen genauso aus wie meine. Ich folge dem Arm nach oben und finde weitere Brandnarben, manche davon sogar ziemlich frisch.
Er sieht aus wie ich.
Der Junge, dem sie gehören, hat weiße Haut, braune, kurze Haare und grünblaue Augen. Er redet mit einem weiteren Jungen neben ihm, der dunkle Haut, schwarze Haare und braune Augen hat. Beide sind etwa in meinem Alter. Der Platz neben ihnen ist leer; kurz überlege ich, aufzustehen und mich vorzustellen, dann sieht der Schwarzhaarige auf, hält im Gespräch inne und nickt kurz zu mir. Der Junge mit den Brandnarben sieht ebenfalls zu mir herüber. Mein Gesicht beginnt zu brennen. Plötzlich bin ich schrecklich in Olivias und mein Gespräch investiert.
Olivia zeigt mir nach dem Frühstück noch einmal, wo der Aufenthaltssaal ist. Wir setzen uns zu einer Gruppe Mädchen, die sie zu kennen scheint. Liv stellt sie nicht vor, nicht aus Bosheit, sie vergisst es nur. Generell scheint sie ständig mit dem Kopf woanders zu sein. Sie sind freundlich, doch ich habe das Gefühl, dass ich mich nicht wirklich mit ihnen anfreunden werde.
Ich verbringe den Tag mit ihnen, denn sie sind das Einzige, das zwischen mir und den neugierigen Fragen der anderen Kinder steht. Insbesondere Olivia gibt sich mühe, mir etwas Privatsphäre zu geben. So sitze ich auch beim Mittagessen bei ihnen, glücklicherweise an einem Platz, wo der vernarbte Junge und sein Freund mich nicht sehen können. Bis dahin wird mir langsam klar, dass ich mich trotz der ständigen Gesellschaft einsam fühle.
Wir spielen Karten und ich finde heraus, dass ich anscheinend ziemlich schlecht darin bin. Sie reden über die Schule, ihre Ferien, Urlaube und Trips. Ich höre zu und verliere schnell das Interesse, doch ich schätze ihre Anwesenheit trotzdem.
Das Abendessen verbringe ich damit, den vernarbten Jungen und seinen Freund aus dem Augenwinkel zu beobachten. Immer wieder versuche ich, mich selbst zu überzeugen, einfach aufzustehen und mit ihnen zu reden, und jedes Mal finde ich eine Ausrede, wieso ich es nicht kann. Immerhin wäre es unhöflich, Olivia und ihre Freunde stehen zu lassen, oder?
„Isst du nichts?“
Ich zucke zusammen. Olivia hat sich kurz aus dem Gespräch mit ihren Freundinnen gelöst und sieht fragend auf meinen vollen Teller hinunter. Ich grinse entschuldigend, „Mir ist nur ein bisschen flau im Magen, deshalb iss ich langsam. Ihr könnt gehen, wenn ihr wollt, ihr müsst nicht auf mich warten“, rede ich mich aus.
„Sicher?“
Ich nicke. Olivia steht auf und nimmt ihr Geschirr. „Wir sehen uns dann im Schlafsaal!“
Ich grinse. Einige Sekunden später sitze ich alleine.
Ich sehe auf mein kaltes Abendessen hinunter und seufze. Lustlos stochere ich darin herum.
Wenn ich gegessen hätte, anstatt die beiden Jungs seltsam anzustarren, oder sie wenigstens angesprochen hätte. Aber nein, dafür war ich zu feige. Und jetzt ist es kalt.
Genervt ramme ich die Gabel in ein Stück Fleisch. Im gleichen Moment beginnt meine Hand höllisch zu brennen. Ich zucke zurück und schreie auf, lasse die Gabel fallen, die laut auf den Teller klirrt. Tränen steigen in meine Augen, ich presse meine andere Hand auf meine Finger.
Ich traue mich kaum aufzusehen, spüre die stechenden Blicke auf mir. Mein Gesicht brennt fast stärker als meine Hand. Entschieden starre ich auf einen Fleck am Tisch, bis die Leute um mich sich wieder um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.
Langsam lasse ich meine Hand los. Entlang meines Daumens, Zeigefingers, Mittelfingers und meines Handballens verläuft eine schnurgerade Brandwunde, die schmerzhaft pocht. Verwirrt sehe ich die Gabel an, stecke dann einen Finger in mein Wasserglas und spritze einen Tropfen auf den metallenen Griff. Es zischt. Der Tropfen verdampft innerhalb von Sekunden.
Ich lasse meinen Teller stehen und gehe zu zwei der Aufpasserinnen, dieses Mal Nonnen, die gerade miteinander reden.
„Entschuldigung?“ frage ich.
„Ja?“
„Meine Gabel glüht.“
Sie blinzelt mich perplex an. „…Bitte?“
Ich halte meine Hand aus und zeige ihr die Brandwunde. Sie nimmt meine Hand und schnalzt mit der Zunge. „Martha, hast du noch die Brandsalbe? Von Elias?“
Martha? Die Heimleitung?
Schwester Martha, eine rundliche, freundlich aussehende südasiatische alte Dame mit braunen Augen, nickt und zieht eine kleine Tube aus ihrer Tasche. Während die andere Nonne meinen Teller herholt, kümmert sich Schwester Martha um meine Hand. Sobald sie die Salbe die Wunde berührt, wird das Brennen leichter.
„Also wie das passiert ist…“ murmelt die erste Nonne verwirrt. Sie schüttelt den Kopf.
„Sie war noch nicht heiß, als ich sie bekommen hab“, sage ich, „Es war nicht die Schuld der Köche.“
Schwester Martha legt den Kopf schief. „Wie ist sie dann so heiß geworden?“
Ich zucke mit den Schultern. Die beiden Nonnen wechseln einen Blick.
„Geh lieber schlafen. Du siehst müde aus“, sagt Martha mit einem freundlichen Lächeln und klopft mir leicht auf die Schulter.
Meine Mitbewohnerinnen liegen allesamt bereits fertig in ihren Betten, als die Lichter mit einem Schnalzen ausgehen. Eines der Mädchen kichert. „Spät dran!“, sagt sie schadenfreudig, „Jetzt duscht du im Dunkeln!“
Der Rest kichert ebenfalls, aber ich reagiere nicht darauf. Ich nehme nur leise meine Sachen und gehe zu den Bädern, schließe die Tür hinter mir und tauche das kleine Zimmer in fast komplette Dunkelheit. Das bleiche Mondlicht durch das winzige, beschlagene Fenster erhellt nur schemenhaft den Raum. Ich steige in die Dusche, setze mich auf den Boden und lasse das Wasser auf meinen Rücken prasseln, bis es wieder warm wird. Die Kälte lindert den Schmerz der Brandwunde noch etwas.
Insgeheim bin ich für die Schwärze dankbar. Ich will nicht jedes Mal Kopfschmerzen bekommen, wenn ich an mir heruntersehe. Auch der Spiegel wirkt weitaus harmloser, jetzt wo ich mich selbst nicht mehr darin sehen kann.
Teil 1.8
Für einige Sekunden weiß ich nicht, ob das Pochen in meinen Händen von der Brandwunde kommt, oder ein Echo von dem Traum ist, den ich gerade hatte.
Wieder war da eine Kerzenflamme in meiner Hand, dann ein Lagerfeuer, dann ein Inferno. Am Ende habe ich mich daran erinnert, dass Feuer eigentlich schmerzt und habe es abschütteln wollen, aber es hat sich an mir festgeklammert und nicht mehr losgelassen. Als ich aufgewacht bin, hat die Brandwunde an meiner Hand höllisch gebrannt und gepocht.
Geschrien scheine ich dieses Mal nicht zu haben, denn meine Mitbewohnerinnen schlafen noch. Der blinkende Wecker verrät mir, dass es zwei Uhr früh ist.
Ich klettere so leise wie möglich aus dem Stockbett, stecke einige Zuckerpakete aus dem Krankenhaus ein, schleiche mich an den schlafenden Mädchen vorbei und gehe barfuß wieder auf die Flure hinaus. Eines der Päckchen reiße ich sofort auf und esse es. Der Zucker bleibt zwischen meinen Zähnen stecken und macht meinen ganzen Mund süß.
Der Flur führt auf einer Seite zu einem Fenster, auf der anderen zu einem größeren, breiteren Flur, der in den Rest des Heims führt. Gleichzeitig ist er dunkler, da er großteils nur Türen und kaum Fenster hat. Kurz zerrt die Angst an mir, sagt, dass da etwas im Dunkeln auf mich wartet. Ich beiße die Zähne zusammen, gehe auf die Dunkelheit zu und flüstere über mein hart schlagendes Herz, „Wenn da ein Monster auf mich wartet, dann ist es sicher freundlich. Vielleicht will es Zucker. Vielleicht kann ich es streicheln.“
Ich streife mit den Fingerspitzen die raue, kalte Wand entlang. Kurz überlege ich, zurückzugehen und mir Socken zu holen, denn der Holzboden ist nicht sonderlich bequem unter nackten Füßen. Gleichzeitig weiß ich aber, dass ich mich das nicht ein zweites Mal traue.
„Kein zurück mehr“, flüstere ich. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Ich schleiche die Gänge entlang, meine Hand immer an der Wand. Meine Schritte werden sicherer, je mehr ich in der Dunkelheit sehen kann.
Eine Weile lang finde ich nur geschlossene Türen, bis ich mich traue, eine davon zu öffnen. Dahinter wartet ein leerer Schlafsaal mit unbezogenen Betten. Eine dünne Schicht Staub bedeckt jedes Möbelstück. Ich schließe die Tür wieder geräuschlos und gehe zur nächsten. Ein ebenfalls leerer Aufenthaltsraum.
Je mehr leere Zimmer ich finde, desto weniger interessiert es mich, wie laut ich bin. Großteils scheint das Heim leer zu stehen, was mich bei so einem riesigen Gebäude nicht wundert. Ich finde irgendwann einen Abstellraum, der ausnahmsweise nicht leer ist, doch er beinhaltet bloß einige aufgerollte, staubige Teppiche und einige Regale mit teilweise beschrifteten Kartons. Die Neugierde lässt mich nicht los, also lasse ich die Tür weit offen stehen, um Licht zu haben, und durchsuche die Kisten. Stapel von Papieren, alte Büroartikel, Zeichnungen und Basteleien von Kindern. Ganz unten in einer Ecke, halb versteckt hinter einem Eimer und zwei Besen, finde ich einen zugeklebten Karton mit der Aufschrift KONFISZIERT. Nach einigem Kratzen und Fluchen bekomme ich die Klebestreifen endlich ab, und werde von einer kleinen Sammlung von Feuerwerken begrüßt. Ich merke mir den Karton für später und schiebe ihn wieder ins Regal zurück.
Außer den Feuerwerken finde ich in dem kleinen Abstellraum nichts interessantes. Wieder gehe ich den Flur entlang, lasse meine Fingerspitzen über Wände und Türen gleiten. Ich durchgehe einige weitere Aufenthaltsräume und finde in einem leeren Schlafsaal einen versteckten Haufen Süßigkeiten unter einem der Betten, an dem ich mich gerne bediene.
Ich öffne eine Tür am Ende eines Flurs. Während sich meine Augen an die Schemen anpassen, glaube ich Betten zu erkennen— noch ein leerer Schlafsaal— und will die Tür wieder schließen. Dann regt sich etwas in dem Bett, das von dem Licht aus dem Flur beleuchtet wird, und ein kleiner Junge starrt mich mit großen Augen an. Ich erkenne ihn als denjenigen, der mich an meinem ersten Tag hier angequatscht hat.
Er blinzelt, scheinbar noch im Halbschlaf. „Wer bist du?“, murmelt er.
Ich senke meine Stimme zu einem Grollen und sage das Erste, das mir einfällt: „Ich bin das Monster von unter deinem Bett.“
Seine Augen weiten sich. Er holt Luft und beginnt zu quengeln. Ich verkneife mir ein Lachen, schließe die Tür hastig wieder und schleiche den Flur entlang zurück in Richtung meines Schlafsaals. Kurz drauf höre ich ihn schreien, „Schwester Marthaaa!“
Aus dem Schleichen wird ein Laufen. Die Dunkelheit interessiert mich nicht mehr im Geringsten. Gerade als ich Schwester Marthas Schritte näherkommen höre, komme ich am Schlafsaal an und schlüpfe hinein.
Hastig klettere ich ins Bett und ersticke mein Kichern unter der Decke. Ich höre unter mir Olivia im Schlaf flüstern, „Was is’n so lustig?“
„Nichts. Geh wieder schlafen“, flüstere ich zurück, gerade als die Tür am anderen Ende des Flurs aufgeht und der kleine Junge wieder nach Martha schreit.
Teil 1.9
Mein Schlaf verbessert sich nicht. Die folgenden Tage vergehen Ereignislos und Ruhelos. Nachts gebe ich auf, irgendeine substantielle Menge Schlaf zu bekommen, und wandere stattdessen durch das Heim. Die Müdigkeit, die mich dafür tagsüber verfolgt, nehme ich gerne in Kauf.
Teil 1.10
Ich sehe Schwester Martha früher wieder als gedacht. Als sie Olivia und mich bei einem hitzigen Kartenspiel unterbricht, das ich haushoch verliere, glaube ich für einige Sekunden, in Schwierigkeiten zu stecken. Eventuell hat mich der Junge doch erkannt, oder Schwester Martha ist seine Beschreibung des Monsters unter seinem Bett doch zu bekannt vorgekommen. Statt einer Schimpftirade lächelt sie mich jedoch nur freundlich an.
„Ich glaube, ich habe mich noch nicht vorgestellt.“
„Schwester Martha? Sie haben mir die Brandsalbe gegeben, richtig?“
Sie nickt. „Wie geht es deiner Hand?“
Ich sehe darauf hinunter. Von der Verbrennung ist nur noch eine leichte Rötung zu sehen.
„Tut kaum noch weh.“
„Freut mich.“ Sie zieht einen gefalteten Zettel aus ihrer Tasche und hält ihn mir hin. „Ms. Elsie hat mir leider vorenthalten, dass sie für dich Dokumente bekommen hat. Du solltest heute zurück ins Krankenhaus, damit die letzten Nähte gezogen werden können.“
Beinahe unbewusst kratze ich an der Narbe über meinem Auge. Ich nehme den Zettel und entfalte ihn, doch beim Überfliegen eines kleinen Absatzes von Fachbegriffen verliere ich wieder das Interesse. „Und wann soll ich los?“
Schwester Marthas Lächeln wird kurz etwas zu spitz, um echt zu sein. „Da Ms. Elsie mich nicht ausreichend informiert hat, habe ich es selbst nur herausgefunden, weil mich Inspektor Danzinger darauf angesprochen hat.“
Ich sehe zur Tür des Aufenthaltsraumes. Danzinger wartet wie immer mit verschränkten Armen und trommelt mit seinen Fingern auf seinem Arm herum.
„Ah.“
„Ich hoffe, ich unterbreche dich bei nichts?“, fragt sie entschuldigend.
„Außer beim Verlieren? Nicht wirklich.“
Sie lächelt. „Gut. Ich würde Inspektor Danzinger nicht lange warten lassen. Er…“
„…ist ungeduldig und unhöflich?“, schlage ich vor.
„So was ähnliches,“ seufzt Schwester Martha.
Eine Weile später sitze ich neben Inspektor Danzinger im Wagen. Er scheint nicht in Plauderstimmung zu sein, und so vergeht unsere Fahrt in Stille. Ich starre aus dem Fenster, sehe den Gebäuden, Autos und Menschen beim vorbeisausen zu.
Danzinger parkt schief über zwei Parklücken und begleitet mich hastigen Schrittes zum Krankenhaus, wo er kurz mit der Dame an der Rezeption spricht. Nachdem er ihr einige Dokumente reicht, winkt sie mich herüber und sagt mir, ich soll in einem Behandlungszimmer warten.
Ich setze mich auf die Pritsche. Zurück inmitten weißer Fliesen und Neonröhren zu sein ist entnervend. Langsam aber sicher habe ich genug von Krankenhäusern.
Die Tür zum Behandlungszimmer öffnet sich, ein älterer Doktor betritt es und lächelt mich an. „Hallo. Wie geht es uns denn?“
Ich versuche zurück zu lächeln. „Gut. Die Narbe juckt.“
„Das kann ich mir vorstellen“, sagt er amüsiert und bemitleidend, und legt sich einige Werkzeuge zurecht. „Bitte den Kopf etwas anheben und die Augen schließen, aber nicht zukneifen.“
Ich sehe zur Decke hoch und schließe mein blindes Auge. Der Arzt zieht einzeln mit einer Pinzette an den Fäden, um sie unter Spannung zu setzen, und durchschneidet sie dann. Es ziept.
„Ist alles andere gut verheilt?“, fragt er.
„So ziemlich, ja“, sage ich kurz angebunden und beiße mir danach auf die Zunge, als er einen Faden aus meinem Augenwinkel zieht.
„Wenn du eine Pause brauchst, sag es ruhig.“
„Ist schon in Ordnung.“
Er zerrt an meinem Augenlid, dann nahe meiner Nasenbrücke. Zum Schluss wird das Ganze desinfiziert. Der Geruch sticht in meiner Nase. Ich reibe über mein Auge und blinzle einige Male. Ohne die ständige Spannung der Fäden fühlt es sich seltsam an.
„Sehr schön. Ich richte Komplimente an denjenigen aus, der das genäht hat“, scherzt der Arzt und reicht mir einen Handspiegel.
Ich ziehe die Narbe mit den Augen nach. Es fühlt sich an, als würde etwas durch mein Fleisch dringen. Ich kann spüren, wie die einzelnen Fasern meiner Haut und meines Gewebes reißen, kann das ekelhafte Knirschen hören, als es meinen Wangenknochen trifft. Mein Mund schmeckt nach Eisen.
Der Spiegel rutscht aus meiner Hand und schlägt mit einem lauten Scheppern am Boden auf. Das Glas splittert in tausend Teile, die sich über den Boden verteilen.
Ich zucke zusammen. „Tut mir Leid!“
Der Arzt grinst beschwichtigend, „Ist schon in Ordnung, das kann schon Mal passieren.“ Er bückt sich, um die Scherben aufzuheben. Ich mache Anstalten, ihm dabei zu helfen, doch er winkt ab. „Ich mach das schon. Nicht, dass ich dann noch einen Schnitt nähen muss.“
Ich lächle ihn an, obwohl mir nicht zum Lächeln zumute ist.
Aus einer der Spiegelscherben, die an meinen Füßen gelandet ist, starrt mir mein eigenes Auge entgegen. Ich kneife die Augen zu und schüttle den Kopf, bis die Erinnerung wieder weicht.
Teil 1.11
Während des Mittagessens tue ich mein Bestes, Olivia zuzuhören, doch ihre Stimme verschmilzt mit der der anderen Kinder und wird zu einem monotonen, angenehmen Murmeln. Kombiniert damit, dass ich letzte Nacht nur wenige, unruhige Stunden geschlafen habe, zerrt es an meinen Augenlidern. Ehe ich mich versehe tut meine Stirn weh. Verwirrt reibe ich mir den Kopf. Olivia sieht mich halb besorgt und halb lachend an.
„Ist was?“, frage ich.
„Du bist mit dem Kopf gegen den Tisch geknallt“, sagt sie, „Wie lange hast du geschlafen?“
Ich zucke mit den Schultern.
Der Rest des Tages vergeht wirr. Ich schwebe zwischen Schlaf und Wachsein, nicke während einigen Runden eines Kartenspiels mehrfach ein, spüre Hitze an meinen Fingern und beschließe, dass ich Schwester Martha wieder nach der Brandsalbe fragen sollte.
Nachdem ich mehrere Runden in Folge verloren habe, beschließe ich etwas Schlaf nachzuholen und krieche ins Bett. Außer mir ist der Schlafsaal leer, so habe ich wenigstens Stille, auch wenn ich kaum zur Ruhe komme.
Als eine der älteren Mädchen uns zum Abendessen ruft, wabert mir ein scharfer, unangenehmer Geruch in die Nase. Ich sehe zur Bettdecke und finde einen Fleck angebrannt. Panisch schlage ich darauf ein, doch der Schaden begrenzt sich auf einen Rußfleck. Verwirrt suche ich nach dem, was es verursacht haben könnte, einem Feuerzeug, einem Streichholz oder einem Mitbewohner, der sich einen besonders üblen Streich erlaubt hat, doch ich finde nichts und niemanden.
Ich überlege mir, es Schwester Martha zu erzählen, doch was würde es bringen? Das letzte Mal, das so etwas passiert ist, hat sie mich angesehen, als wäre ich verrückt. Außer alle Kinder zu befragen kann sie sowieso nichts ausrichten.
Kurz erwäge ich, ob es vielleicht der vernarbte Junge war. Er spielt ständig mit seinem Feuerzeug. Aber ich hätte ihn doch erwischt, oder?
Geschlagen drehe ich die Decke um, um den dunklen Fleck zu verstecken, und gehe zum Abendessen.
Olivia und ihre Freunde quatschen wieder fröhlich. Diesmal erzählt eine von ihnen über eine Klassenkameradin, die ich nicht kenne, also kann ich nicht mitreden. Stattdessen stochere ich in den Resten meines Essens herum. Eigentlich sollte ich das nicht machen, oder? Beim letzten Mal hat meine Gabel plötzlich geglüht, und deshalb schmerzt jetzt meine Hand. Außerdem sollte ich wahrscheinlich mehr essen. Seitdem ich im Koma war, bin ich unglaublich dürr.
Das mehrfache Zünden eines Feuerzeuges lässt mich den Gedanken kurz vergessen. Der vernarbte Junge und sein Freund sitzen nur einige Plätze entfernt. Sie reden leise, der Vernarbte spielt wieder mit seinem Feuerzeug herum.
Er kann es nicht gewesen sein, richtig? Wieso würde er mich anzünden wollen?
Ich steche meine Gabel in ein Stück Fleisch, nur um es desinteressiert über den Teller zu schieben. Für die glühende Gabel hatte ich auch keine Erklärung. Ich kann ihn nicht einfach verdächtigen.
Entschlossen lege ich mein Besteck auf den Teller, nehme ihn und stehe auf. Es gibt eine sehr einfache Lösung: Ich muss ihn fragen. Egal, ob er die Wahrheit sagt oder nicht, seine Reaktion wird mir einiges verraten.
Und was sage ich dann? „Hallo, hast du gerade versucht mich anzuzünden?“
Im letzten Moment überlege ich es mir anders und gehe an ihnen vorbei. Stattdessen bringe ich mein Geschirr zur Küche zurück, obwohl ich eigentlich noch nicht mit dem Essen fertig war.
Das Wort Feigling tanzt schadenfroh in meinem Kopf herum.
Im Vorbeigehen rufe ich Olivia, „Ich geh mich hinlegen“, zu. Sie lächelt und gibt einen Daumen hoch.
Zurück im Schlafsaal setze ich mich auf die Matratze, lasse die Beine vom Bett hängen und raufe mir durch die Haare. Ich bin zu müde und zu demotiviert, um mich umziehen zu gehen. Bevor überhaupt die Lichter ausgehen, lege ich mich hin und wickle mich in die Decken ein. Eine Weile ist es still, dann trudeln langsam Leute ein und ihre Stimmen erfüllen die Luft. Einige Zeit später gehen die Lichter aus und es wird langsam wieder still.
Ich drehe mich um. Mein Arm fällt von der Matratze und hängt lose in der Luft. Unter meinen Fingerspitzen bewegt sich etwas. Es ist warm, lebendig.
Ich strecke meine Hand nach dem Ding im Dunkeln aus und greife es, halte es wie ein Glühwürmchen. Fasziniert öffne ich die Hand und sehe, dass ich eine Kerzenflamme gefangen habe. Ich erinnere mich an das letzte Mal, dass ich ein Feuer in der Hand hatte und will sie fallen lassen, doch sie klammert sich an mich, flackert mir munter entgegen und streckt sich zu mir hoch. Meine Finger werden heiß, es wächst immer höher und meine Arme hinauf. Das Feuer beginnt zu schreien, zu kreischen, das Bild von Blut und der Geschmack eines Autowracks mischen sich in den Traum. Erst dann verstehe ich, dass das Bett unter mir in Flammen steht.
Olivia kriecht aus dem Bett, lässt sich auf den Boden fallen und schlägt panisch auf die Flammen ein. Das Feuer kriecht das Bett entlang nach oben, so wie es an ihrer Kleidung und ihren Haaren wächst. Es ist nicht das Feuer, das kreischt, sondern sie.
Ich strample panisch, um die brennende Bettdecke von meinen Beinen zu bekommen. Hastig krieche ich davon weg, die Matratze fängt Feuer, ich verliere das Gleichgewicht und falle vom Stockbett. Der Aufprall jagt mir die Luft aus den Lungen, Schmerz explodiert in meiner rechten Körperhälfte. Ich schlage auf meine Kleidung ein, bekomme nur vage mit, wie jemand eine Decke über Olivia wirft, um die Flammen zu ersticken. Der Saum meiner Hose glüht und brennt auf meiner Haut, also reiße ich ihn mit bloßen Händen ab.
Hastige Schritte nähern sich. Jemand wirft die Tür auf, schreit spitz, dann fällt etwas Metallenes zu Boden. Einen Moment später sprüht Ms. Elsie das Stockbett mit einem Feuerlöscher ein. Die Flammen zischen. Es bleibt nur noch Rauch, der in langsamen, trägen Schwaden von der angeschwärzten Mischung aus verbranntem Holz und geschmolzenem Polyester steigt.
Ich starre auf meine Hände und Beine herunter. Mit jedem Herzschlag fließt eine Welle aus Schmerz durch die Brände. Schluckend versuche ich, ein Wimmern zu unterdrücken.
Zwei Nonnen betreten das Zimmer und sehen sich für einen Moment geschockt und überfordert um. Eine von ihnen kniet sich zu Olivia, um nach ihr zu sehen, die andere reißt ein Fenster auf und sieht nach dem Rest der Mädchen.
Es wird still. Olivias Weinen ist das einzige, was bleibt.
„Was ist passiert?“, fragt Ms. Elsie geschockt.
„SIE WAR DAS!“, schreit Olivia, ihr Finger anklagend gegen mich erhoben, „SIE WAR DAS! SIE WARS!“
Die Nonne versucht Olivia vom Hyperventilieren abzuhalten. Sie schickt ein Mädchen los, um um den Erste-Hilfe-Kasten zu holen und ein weiteres, um einen Krankenwagen zu rufen.
Ms. Elsie wirft den Feuerlöscher zu Boden. „Warst du das?“, fragt sie mich.
Ich will es verneinen, ganz sicher bin ich aber nicht. Stattdessen bleibe ich still, starre auf die Brandwunden hinunter und beiße mir die Zunge blutig in dem Versuch, nicht zu weinen oder zu schreien.
Ms. Elsie stampft auf mich zu und zerrt mich am Arm hoch. Als ich versuche, meine Beine zu belasten, sticht mein gesamter rechter Oberschenkel höllisch, die Brandwunden lodern auf und meine Knie knicken ein. Ich keuche.
„Her damit!“, schreit sie.
„Lass mich los!“
„HER DAMIT!“
Sie packt mein Handgelenk fester und tastet meine Taschen ab. „Wo sind sie? Raus damit!“
„Was? Was wollen Sie?!“
„Die Streichhölzer! Das Feuerzeug! Womit hast du denn das Feuer gelegt, du blödes Gör!“
Meine Wange brennt plötzlich. Erst als die Tränen bereits fließen, verstehe ich, dass Ms. Elsie mich geschlagen hat. Sie zerrt mich am Arm aus dem Saal, ihre Fingernägel bohren sich in meine Haut. Sie bringt mich zu einem winzigen Raum und schubst mich hinein.
Ich lande auf derselben Stelle, wie als ich aus dem Stockbett gefallen bin. Schmerz zuckt durch meinen Körper, quetscht mir den Atem ab zwingt mich, liegen zu bleiben.
„Ich bin gleich wieder bei dir, und dann führen wir ein ernstes Gespräch, junge Dame“, faucht Ms. Elsie und knallt die Tür zu.
Ich krümme mich zusammen und weine still.
Die Luft ist verstaubt und stickig, der Boden ist eiskalt. Mir läuft eine Gänsehaut auf. Die einzige Schlafgelegenheit ist eine durchlöcherte Matratze, doch als ich genauer hinsehe, bewegt sich etwas darin und ich entscheide, davon wegzubleiben.
Erst als mir die Kälte bereits in den Knochen steckt, schaffe ich es, mich aufzusetzen. Meine Hände zittern. Ich sehe auf die Brandwunden hinunter, die höllisch schmerzen. Keine Konsequenz davon, Ms. Elsie wieder unter die Augen zu gehen, könnte schlimmer sein. Nur mit einigen Mühen komme ich auf die Beine und zur Tür. Ich rüttle an der Klinke. Abgeschlossen.
Panik schnürt mir die Kehle zu. Ich rüttle stärker, hämmere gegen die Tür, bis meine Hände wie Höllenfeuer brennen. Irgendwann fange ich an zu schreien.
„Lass mich raus! BITTE!“
Die Luft in dem Zimmer scheint immer dicker zu werden. Bald knie ich am Fuß der Tür und ringe angestrengt um jeden nächsten Atemzug. Tränen laufen wieder mein Gesicht hinunter.
Es fühlt sich an, als würden Stunden vergehen. Ich will nur noch, das die Tür aufgeht. Mir ist egal, ob Ms. Elsie mich anschreit, mich wieder schlägt oder mich stundenlang ausschimpft, ich will nur hier raus.
Hinter der Tür ertönen Schritte. Verzweifelt hämmere ich gegen die Tür.
„Ms. Elsie! Es tut mir Leid! Bitte, lassen Sie mich raus!“
Die Schritte gehen an der Tür vorbei. Ich klopfe stärker, schreie, bis ich heiser bin.
Niemand antwortet.
Hey, ich erinnere mich, die Geschichte im vergangenen Jahr Kapitel 1-3 durchgelesen und sehnsüchtig auf 4 gewartet zu haben. Es war für mich eine der imposantesten Geschichten des Jahres, und seit dem hängt mir die Frage im Kopf, ob noch ein Kapitel kommen wird?
Ps: 5/5 Sternen
Freut mich sehr, dass es dir gefällt! ^^
Tatsächlich hatte ich die Story schon einmal hochgeladen. Dann hatte ich das Glück, dass eine zweite Autorin mir angeboten hat, ein Partnerprojekt zu schreiben. Ich habe zwei ihrer Charaktere (Red und Elias) ins erste Kapitel eingebaut.
Die Gelegenheit habe ich gleich genutzt, um noch einmal alles aufzupolieren. Ich traue mich zu sagen, dass es jetzt weitaus besser ist. Es haben sich einige Dinge geändert, neben den Charakteren habe ich das erste Kapitel in zwei geteilt, mehrere Formulierungen geändert, etc.
Es kommen definitiv noch Kapitel! Das zweite werde ich bald hochladen, vermutlich noch diese Woche.
Danke für die Bewertung <3
Gut, dass du die Änderungen erwähnst :), dann würde ich mir das nämlich nochmal durchlesen, und auf die anderen Teile vorbereiten.
Ich kanns gar nicht fassen wie froh ich war, Ashes to Ashes wieder auf der Startseite zu sehen ^^