Bizarro FictionEigenartigesKreaturenLangeOrtschaftenSchockierendes EndeÜbersetzung

Die Wesen aus dem Wasser

Stadt der Titanen

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

„Yo. Hier ist Pierce. Hinterlasse eine Nachricht. Irgendwann rufe ich dich zurück.“

Rose zog eine Grimasse und unterbrach die Verbindung, bevor der Anrufbeantworter ansprang. Sie schmiss ihr iPhone auf den Beifahrersitz. Das Spiegelbild ihres immer noch erleuchteten Telefons verdeckte die ohnehin schon schwierige Sicht durch die Windschutzscheibe. Die Wischer fuchtelten hin und her, doch sie schienen den Regen nur herumzuschieben. Rose konnte kaum die zweispurige Fahrbahn erkennen, die sich vor ihr erstreckte, und die Wälder, die sie zu beiden Seiten säumten. Die mächtigen Äste der Eichen erstreckten sich über der Straße und schienen nach Roses Chevrolet Trailblazer zu greifen. Zwar war sie als Kind schon oft diese Straße entlanggefahren, aber die Finsternis und der Regen machten die Region zu einer fremden Domäne.

„Scheiße nochmal, Pierce“, knurrte Rose, wenn auch nicht zum ersten Mal in dieser Nacht.

Begonnen hatte alles vor etwa fünf Stunden. Rose befand sich zu Hause in Pensacola, war geduscht und bettfertig angezogen, als ihr Telefon auf dem Nachttisch klingelte. Als sie den Anruf entgegennahm, ertönte die verzweifelte Stimme ihrer Mutter aus dem Hörer. Ihr Kopf pochte gegen ihre Brust. Heute Nacht war es soweit, dachte sie. Es war die Nacht, vor der sich Rose schon als Kind gefürchtet hatte. Sie war dabei zu gehen und ihre Tochter anzurufen, um sich zu verabschieden. Doch je mehr Rose zuhörte, desto mehr wandelte sich ihr Gesichtsausdruck von weit aufgerissenem Entsetzen zu höhnischem Abscheu.

„Rosie, Baby, ich brauche deine Hilfe. Ich habe gerade einen Anruf von Pierce bekommen. Er hatte wirklich große Angst. Er sagte, dass sie hinter ihm her seien. Ich konnte die Nachricht nicht ganz verstehen. Alles war nur ein Rauschen. Ich hoffe, dass er nicht in Schwierigkeiten geraten ist.“

Selbst jetzt, als sie mitten in der Nacht durch den sintflutartigen Regen fuhr, rollte sie mit den Augen. ‚Ich hoffe, er sitzt in einer Gefängniszelle‘, dachte Rose. Das würde ihm nur recht sein. Wie oft hatte er seine Mutter schon mit derselben traurigen Geschichte angerufen – ich brauche Geld oder ein paar Typen werden mich umbringen. Kommt mich abholen, ich habe getrunken und das Auto geschrottet. Ich kann nicht zurück in den Knast gehen. Und wer war es, den ihre angeschlagene Mutter anrief, um zu Hilfe zu eilen?

Und warum war es immer Roses Verantwortung? ‚Weil ich die Zuverlässigkeit in Person bin‘, dachte sie, der Grund, den ihre Mutter nie in Worte fassen würde. Denn wie könnte sie etwas Negatives über ihren kostbaren Jungen sagen? Rose schnaubte, und ihr Gesicht wurde heiß. Er war nicht derjenige, der sich den Arsch aufgerissen hatte, um einen Abschluss zu bekommen. Er musste sich nicht durch die Highschool kämpfen, nur weil er lesbisch war. Er war einfach der perfekte kleine Scheißer, der alles bekam, was er wollte, weil er hübsch und hetero war und die Hälfte der weiblichen Bevölkerung gefickt hatte, bevor er sechzehn war. ‚Hör auf‘, sagte sich Rose. Sie versuchte, ihren Kopf freizubekommen und tief durchzuatmen. Pierce war es nicht wert, soviel Stress zu verursachen.

Rose drehte den Knopf des Radios. Das Einzige, was an ihr Ohr drang, war Rauschen. Nichts Ungewöhnliches. Irvine, Florida, war (wie Rose es als Teenager oft ausdrückte) das Land, das die Zeit vergessen hatte, sodass es schwierig war, etwas Bemerkenswertes zu finden – geschweige denn einen Radiosender. Irvine war eine separate kleine Stadt, eingebettet zwischen einem Naturschutzgebiet und dem Golf von Mexiko. Die nächste Ladenkette, die nicht Walmart hieß, befand sich eine gute Stunde entfernt in Ocala, und wer etwas Feineres als Häuptling Ronald McDonald oder Colonel Sanders suchte, hatte einfach Pech. Als sie zum ersten Mal zum College nach Nordflorida aufbrach, schwor sie sich, nie wieder zurückzukehren. Was für eine Ironie.

Sie drehte den Knopf auf 95.3 FM, Irvines beste Hits. Sicher, es waren wahrscheinlich nur Countrysongs, aber im Moment würde Rose sich lieber Keith Urban anhören, der darüber singt, dass er seine Freundin verloren hat, als das endlose Rauschen des Regens. Doch als sie die Auswahl auf den Radiosender stellte, drang nichts als Rauschen aus den Lautsprechern. Rose wartete und ein Teil von ihr konnte nicht verstehen, dass der Sender nicht zu hören war. Früher schaltete sie ihn während eines Hurrikans ein und die Übertragung war so deutlich, als ob der Reporter direkt neben ihr säße. So viel kann sich nicht geändert haben. Sicher, sie war schon ein paar Jahre nicht mehr in Irvine, aber wie viel konnte sich in einer Kleinstadt im Laufe eines Jahrzehnts ändern?

Rose stellte das Radio ab und ließ die Stille wieder in das Auto eindringen. Ein verblichenes, weißes Schild zog vorbei. Sie musste es nicht sehen, um zu wissen, was darauf stand: „Willkommen in Irvine! Heimat des Lover’s Lake. Einwohnerzahl: 7.390“. Es war eines dieser Dinge, die sich in die Erinnerungen eingraben, wenn man in einer Kleinstadt aufwächst. So wie der Geruch des Getreides von den vielen Farmen oder wie die Fische am See an der Angel beißen. Es war dieselbe Monotonie, derselbe provinzielle Stillstand, dem Rose so gerne entfliehen wollte.

Der Regen ließ nach, die Bäume verblichen, als sie in die 7th Avenue einbog. Reihenweise Backsteinläden mit dunklen Fenstern reihten sich entlang der Straße. Die Laternen auf den Gehwegen warfen ein geisterhaftes, gelbes Licht in die Nacht. Am Ende der Straße überragte das alte Justizamt von Irvine die Stadt – ein dreistöckiges, perfekt quadratisches Gebäude. Aus dem Herzen des Gerichtsgebäudes ragte ein Uhrenturm, der der ganzen Straße ein antiquiertes Aussehen verlieh.

Eine drückende Stille lastete wie ein Mantel auf der verlassenen Allee. Logisch, dachte Rose. Die einzigen Geschäfte, die um diese Zeit geöffnet hatten, waren wahrscheinlich Jacks Bar und der 7-Eleven an der Kreuzung. Zugegeben, Rose vermutete bereits, in welchem Laden Pierce sich befand.

Rose hielt vor Tot’s Toys an, ihr Trailblazer glänzte nahezu perfekt im nassen Spiegelbild der Schaufensterscheibe. Das Schnurren des Motors wirkte in der nächtlichen Stille schon fast tröstlich. Sie griff nach ihrem iPhone und wählte die Nummer ihres Bruders erneut. Nachdem sie es an ihr Ohr gedrückt hatte, erhielt sie praktisch sofort die gleiche Ansage wie zuvor.

„Yo. Hier ist Pierce. Hinterlasse eine Nachricht. Irgendwann rufe ich dich zurück.“

Rose seufzte. Wenigstens hat es vorher geklingelt. Der Mistkerl hat wahrscheinlich sein Telefon ausgeschaltet … oder es defekt. Mit einem tiefen Stoßseufzer legte sie das Telefon auf ihren Schoß. Der sich ankündigende Schmerz einer Migräne spannte ihre Stirn an, sodass Rose eine Hand erhob, um den Druck wegzumassieren. Jacks Bar war wahrscheinlich der erste Ort, den sie überprüfen sollte. Doch als sie ihr Gedächtnis durchforstete, konnte sie sich nicht erinnern, wo sie lag. Als sie ein Kind war, war es ein ganz normales Gebäude, das vorbeirauschte, während die Familie auf dem Weg zur Schule war oder bei Pizza Hut aß. Als sie alt genug war, um die Bar als das zu erkennen, was sie war, hatte sie keine große Lust, hineinzugehen. Wenn sie trank, dann am liebsten allein oder mit ein paar Freunden.

Trinken mit mehr als einer Handvoll Personen führte mit Sicherheit dazu, dass man sich zum Idioten machte.

Zum dritten Mal in den letzten fünfundvierzig Minuten schnappte sie sich ihr iPhone und öffnete die Maps-App. Sie tippte den Namen des Ortes ein. Gerade als sie die Eingabetaste gedrückt hatte, erschien eine Meldung am unteren Rand des Bildschirms – die Route kann nicht angezeigt werden, weil dein iPhone nicht mit dem Internet verbunden ist.

Rose überprüfte ihre Verbindung und stellte fest, dass sie nur zwei Balken hatte. Sie versuchte es erneut.

Eine Route kann nicht angezeigt werden, weil dein iPhone nicht mit dem Internet verbunden ist.

„Verschon‘ mich damit“, murmelte sie. Rose atmete tief durch und versuchte, ihre Gedanken auf den nächsten Schritt zu konzentrieren, obwohl der wachsende Schmerz zwischen ihren Augen dies erschwerte.

Auf der Straße herrschte eine schaurige Geräuschlosigkeit. Leichter Nebel hüllte die Straße in einen schemenhaften weißen Schleier. Am Himmel herrschte fast völlige Schwärze, und die Wolken öffneten sich nur so weit, dass ein vereinzelter Strahl des Mondlichts die Welt unter ihr streifte. Jedes einzelne Fenster war verdunkelt und zeigte nichts außer einer nebulösen Spiegelung. Eine Aura aus gelbem Licht fiel vom Ende der Straße, praktisch direkt gegenüber dem Gerichtsgebäude.

Der 7-Eleven. Rose seufzte und fuhr mit dem Jeep die 7th Street hinauf. Als sie sich dem Gebäude näherte, sah sie den alten Lebensmittelladen mit seiner alten Backsteinarchitektur aus den 1930er-Jahren. Vor dem Laden gab es keine Zapfsäulen – um zu tanken, musste man ein paar Straßen weiter zu einer Shell-Tankstelle hinüberfahren.

‚Ich sollte einfach zu Shell gehen‘, dachte Rose und spürte, wie sich ihr Magen bei dem Gedanken, diesen 7-Eleven zu betreten, zusammenzog. Sie erinnerte sich kurz an das Gebäude, bevor es Anfang der 2000er-Jahre umgenutzt wurde – ein altes Beerdigungsinstitut namens Murdock’s. Das einzige Mal, als sie in dem Gebäude war, als es noch ein Bestattungsunternehmen war, geschah dies bei der Beerdigung ihres Großvaters. Sie war damals neun Jahre alt. Auf dem Weg zur Toilette war sie falsch abgebogen und hatte sich in der Leichenhalle eingeschlossen. Als ihre Mutter sie dreißig Minuten später wiederfand, saß sie in einer Ecke und zitterte vor Angst. Sie wartete darauf, dass sich eine der Leichen erheben würde. Dann entdeckte sie den damals sechzehnjährigen Pierce, der hinter Mom hersah und spöttisch zitterte.

„Pass auf, Rosie, die Jungs vom Bestattungsinstitut werden dir nach Hause folgen“, hatte er noch fast ein Jahr lang gesagt. „Sie werden dich holen kommen. Sie wollen dein Freund sein.“

Damals weinte Rose hysterisch, während Pierce sich vor Lachen krümmte. Die kurze Zeit im Leichenschauhaus und Pierce‘ permanenter Spott führten dazu, dass Rose dem Gebäude überdrüssig wurde, selbst als es zum 7-Eleven umgebaut worden war. Das war übrigens auch der Grund, warum sie seit der Eröffnung des Ladens nur ein einziges Mal in diesem Geschäft gewesen war. Damals war sie in der Highschool und ihre Freundinnen wollten sich noch etwas zu essen holen, bevor sie nach Hause gingen. Rose hielt es nur eine Minute aus, bevor sie eine Ausrede fand, um draußen zu warten.

Wenn sie jetzt an den Vorfall dachte, wurde Rose heiß im Gesicht. Die Angst war wie weggeblasen. Sie nahm das Handy vom Beifahrersitz und parkte vor dem 7-Eleven. Der Geruch von Regen lag noch in der Nacht, und die Luft hing durch den Dunst in der Luft. Rose näherte sich der Schaufensterfront, ihre Nikes klangen zu laut auf der ruhigen Straße. Sie erhaschte einen Blick auf ihr Spiegelbild und stieß einen Seufzer aus. Sie hatte keine Zeit gehabt, sich ein ansehnliches Outfit zusammenzustellen, also trug sie eine alte Jogginghose und ein weites Hemd, das sie nur zum Sport getragen hatte. Ihr kastanienbraunes Haar war verfilzt und kraus. Rose fuhr sich schnell mit der Hand durch ihr widerspenstiges Haar, bevor sie sich an den Griff der Glastür des Ladens klammerte.

Erneut flammte Angst in ihr auf und ließ sie innehalten. Ihre Fingerknöchel spannten sich gegen die Tür, als ob eine Kraft sie festhalten würde. „Was ist los, Rosie? Dein Freund wartet“, hallte Pierce‘ Stimme in ihrem Kopf wider. Rose ächzte, riss die Tür auf und trat ein.

Sie blinzelte gegen das grelle Neonlicht an. Das Innere des Gebäudes hatte sich seit seiner Zeit als Beerdigungsinstitut drastisch verändert. Früher war die Halle in mehrere kleinere Räume und Besichtigungsbereiche unterteilt gewesen. Jetzt sah es so aus, als ob ein Großteil der Wände eingerissen worden war, um einen offenen Raum zu schaffen.

Zahlreiche Regale mit Snacks und Süßigkeiten säumten den Laden zu ihrer Rechten und eine Wand mit Kühlschränken mit Getränken. Weiter vorn befand sich ein leerer Tresen mit einer Kasse. Rose trat ein paar Schritte hinein, ihre nassen Schuhe quietschten auf dem gelben Linoleum.

„Hallo?“, rief sie in den Laden, ihre eigene Stimme dröhnte in ihren Ohren. Im Laden war es unheimlich still, nicht einmal das übliche Radio lief im Hintergrund. Es war fast so, als hätte jemand den Laden verlassen und vergessen abzuschließen.

„Hallo?“, rief sie erneut und setzte ein paar vorsichtige Schritte in den Laden.

Ein Rascheln kam aus einem der Regale im hinteren Teil des Ladens. Eine Dose mit Hundefutter rollte hinter dem Regal hervor und landete einige Meter vor ihr. Rose starrte sie vorübergehend an, als wäre sie eine Natter, die sich auf einen Angriff vorbereitet. Der Verkäufer muss in Schwierigkeiten sein, dachte sie, als sie es wie eine Leuchtreklame vor sich sah. Rose stürmte nach vorn und kickte die Dose mit einer flinken Bewegung ihres Fußes zur Seite.

Sie bog um die Ecke und entdeckte einen Mann, der mit dem Rücken zu ihr stand und mit den Armen an den Seiten hin – und herbaumelte. Er trug ein grünes Hemd und eine hellbraune Hose, wie sie für die Angestellten von 7-Eleven typisch sind, und sein kahler Kopf wirkte im Licht seltsam blass. Im ersten Moment sah es so aus, als würde eine Art Verzerrung zwischen ihr und dem Mann stehen, eine Trübung. Sie blinzelte ein paar Mal und die Trübung war verschwunden.

„Entschuldigen Sie“, sagte Rose. Der Kassierer drehte sich nicht um. Sie ging einen Schritt näher heran. War er schwerhörig? „Brauchen Sie Hilfe?“, fragte sie etwas lauter.

Der Mann hob den Kopf. Erleichtert atmete Rose auf. Wenigstens reagierte er. Er wandte sich langsam um und entblößte ein hageres, blasses Gesicht. Die Augen des Mannes waren so tief eingesunken, dass es im passenden Winkel aussah, als ob sie nicht mehr vorhanden wären. Auf seinem kahlen Kopf klaffte eine tiefe Wunde, die mit getrockneten Blutspuren im Gesicht übersät war. Die Wunde glitzerte im fluoreszierenden Licht, und Rose hätte schwören können, dass sie das Weiß der Knochen erkannte.

Roses Herz fühlte sich wie ein Fleischklumpen in ihrer Brust an. Das ist eine der Leichen aus dem Keller, dachte sie verzweifelt, als sich ihr Körper anspannte und sie zurück zur Tür stürmte. Bevor sich dieser primitive, kindische Gedanke festsetzen konnte, zwang sie sich, die Fassung zu bewahren. Oh mein Gott, er ist verletzt, stellte der vernünftigere Teil ihres Gehirns fest.

„Nicht bewegen“, sagte sie und griff nach dem Telefon in ihrer Tasche. „Ich werde Hilfe holen.“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihre zitternden Finger den Notruf „911“ fehlerfrei eintippten. Sie drückte das Telefon an ihr Ohr. Nichts.

„Scheiße“, murmelte sie. Rose blickte auf, als sie den Mann sah, der am anderen Ende des Regals um die Ecke verschwand. „Sir“, rief sie, während ihre Füße sie vorwärts trugen. Gerade als sie das Regal erreichte, ließ ein krachendes Geräusch sie zusammenzucken. Der Mann stand vor einer der Kühlschranktüren und schlug seinen Kopf gegen das Glas. Beim ersten Schlag riss die Wunde an seinem Kopf auf und ein neuer Schwall von Blut ergoss sich über sein Gesicht und über die Tür. Mit jedem Schlag entstanden neue Risse im Glas, und das Blut sickerte in die Ritzen und bildete ein makabres Netz in der Tür.

„Aufhören“, rief Rose, doch es kam nur ein leises Quietschen heraus. Ihre Gelenke waren wie erstarrt. Der Mann nahm keine Notiz davon. Es war erstaunlich, dass das Gesicht des Kerls nicht nachgab, bemerkte Rose in einem entfernten Teil ihres Gehirns. Zugegeben, es war schon ziemlich nah dran. Seine Nase war unnatürlich zur Seite gebogen, und mehrere Zähne lagen um seine Füße herum auf dem Boden. Trotzdem schlug er weiter, immer weiter, immer weiter, bis …

Sein Kopf krachte durch das Glas. Der Mann baumelte in der Öffnung, während Blut und Rotz die Innenseite der Tür bedeckten. Glassplitter, einige so lang wie Roses Unterarm, glitzerten auf dem Linoleum. In Roses Kopf fühlte es sich leicht an, und sie zwang sich, tief einzuatmen. Die Benommenheit ließ nach, aber das beruhigte ihr rasendes Herz keineswegs.

Ruf 911, dachte sie, obwohl sie wusste, dass der Empfang immer noch nicht vorhanden sein würde. Vielleicht gab es ein Festnetztelefon … Dennoch konnte sie nicht anders, als wie gebannt auf den Mann zu starren, dessen Kopf in der zerbrochenen Öffnung einer Kühlschranktür feststeckte. Sie war wieder in diesem Keller, umgeben von Leichen, die in weiße Tücher gehüllt waren.

Der Mann schob seinen Kopf aus der Öffnung und ließ Rose zusammenzucken. Sein Schwung trug ihn so weit weg, dass er fast rückwärts stürzte. Der 7-Eleven-Angestellte hing zeitweilig da, den Rücken in einer ungewöhnlichen Kurve gekrümmt. Dann, als sei er eine Marionette, die an den Fäden hochgezogen wurde, sprang er in eine aufrechte Position.

Renn! Nicht einmal die Erinnerung an die Scherze, die Pierce in seiner Kindheit gemacht hatte, konnte diese eindeutige Aufforderung überwinden. Alles in dieser Nacht, vom Anruf auf Pierces Mailbox bis zum unberechenbaren Verhalten dieses Mannes, trug die Handschrift eines schlechten Horrorfilms. Und ratet mal, wer die Scream-Queen ist, spottete Pierces Stimme über sie. Die Haare auf ihren Armen und in ihrem Nacken standen ihr zu Berge.

Der Mann beugte sich vor, sein Körper hing so tief, dass er eigentlich auf sein Gesicht hätte fallen müssen. Seine Finger suchten unbeholfen den Boden ab, bis sie an einer besonders langen Glasscherbe Halt fanden. Blut sickerte aus der Hand des Mannes, als sich sein Griff verkrampfte und das Glas mit einer dicken, purpurfarbenen Schicht überzog. Mit einem Ruck, der jeden Knochen in seiner Wirbelsäule knacken ließ, richtete sich der Mann auf und setzte einen langen, überzogenen Schritt auf Rose zu. Seine obere Hälfte wiegte sich, als ob alle Kraft in seinen Beinen steckte. Rose spürte, wie er sie mit seinen Augen fixierte, aber in diesen Augen lag nichts. Sie waren dunkel und trübe.

Die Augen eines toten Mannes.

Roses Beine lösten sich endlich, und der Gedanke kehrte mit neuer Kraft zurück.

LAUF!

Sie taumelte einen Moment lang, als sich ihre Füße verkanteten. Sie richtete sich auf und bewegte sich auf die Tür zu. Sie erwartete, hastige Fußstapfen hinter sich zu hören, aber alles, was sie wahrnahm, waren ihre eigenen hektischen Gehversuche in Richtung Eingang. Der Schmerz schoss durch Roses Schulter, als sie die Tür mit so viel Kraft aufstieß, dass sie gegen die Wand schlug. Das Glas zitterte, zerbrach aber nicht.

Rose schrie auf, schlenderte aber zu ihrem silbernen Trailblazer. Sie zog an der Türklinke, doch der Mechanismus war unerbittlich. Panik trübte ihre Sicht. Fieberhaft zog Rose noch einmal und noch zweimal mit dem gleichen Ergebnis. Die ganze Zeit über flüsterte Pierce ihr den alten Satz aus einem Romero-Film ins Ohr.

„Sie kommen, um dich zu holen, Rosemary.“

Erst als sie das sich verschiebende Gewicht in ihrer Tasche spürte, wurde ihr klar, dass sie den Wagen abgeschlossen hatte. Rose vergrub ihre Hand in ihrer Hose und ihre Finger fuhren verzweifelt über das kalte Metall ihres Schlüsselbundes. Etwas knallte hinter ihr. Rose warf einen Blick über ihre Schulter. Der Mann stand vor der Tür, seine Gestalt war etwas buckelig und im Neonlicht des Ladens zeichnete sich seine Silhouette ab. Sein Kopf war gesenkt, als ob er nicht die Kraft hätte, ihn zu heben. Doch mit einer kurzen, fuchtelnden Bewegung hob der Mann die Scherbe und schlug sie gegen das Glas der Tür. Glöckchenläuten.

„Sie kommen, um dich zu holen …“

Rose zerrte die Schlüssel aus ihrer Tasche. Ihre Finger fühlten sich steif an, als sie die Schlüssel abzählte.

Klingeling. Klingeling.

Sie steckte den Schlüssel in das Schloss. Er sprang zurück und hinterließ eine deutliche Rille in der Farbe. In ihrem Blickfeld bewegte sich etwas. Rose schaute nicht auf, sondern konzentrierte sich nur auf den Schlüssel und darauf, ihn ins Schloss zu stecken …

Der Schlüssel glitt hinein.

Sie bewegte den Griff und die Tür sprang auf. Gerade wollte sie einsteigen und die Tür hinter sich schließen, als die Tür des 7-Eleven aufplatzte. Der Mann stürzte in die neblige Nacht. Rose steckte den Schlüssel in das Zündschloss und drehte den Motor. Das Triebwerk startete einmal, bevor es abstarb. Kalter Schweiß rann über Roses Stirn. Sie drehte den Schlüssel erneut. Ein halbherziges Aufheulen kam unter der Motorhaube hervor, verstummte aber genauso schnell, wie es begonnen hatte.

Ein Schatten fiel auf sie, gefolgt von einem Klopfen gegen das Fenster auf der Fahrerseite. Fast wie aus einem Instinkt heraus drehte sich Rose zu dem Störfaktor um. Der Mann im 7-Eleven stand draußen, die Spitze der Glasscherbe in seiner Hand glitt träge über ihr Fenster. Sein Kopf baumelte, als ob sein Genick gebrochen wäre. Das Blut aus seiner Stirnwunde wirkte in dem schwachen Licht schwarz, und Rose konnte seine Augen in den Augenhöhlen nur schwer erkennen. Doch Rose war sich sicher, dass er sie nicht anschaute. Denn er ist tot, protestierte ihr verzweifelter Verstand. Bei diesem Gedanken keuchte sie auf und kletterte über die Sitze, um aus der Beifahrertür zu springen.

Ihre Schulter schlug auf dem Beton auf und verursachte einen krampfartigen Schmerz, der in ihre rechte Seite ausstrahlte. Während sie sich aufrichtete, bemerkte Rose mehrere andere Gestalten, die aus den Schaufenstern und Gassen taumelten. Einige trugen zerrissene Kleidung, während andere gebügelt und makellos aussahen. Die meisten wiesen irgendeine Art von Verletzung auf. Am häufigsten waren Stich- oder Kopfwunden, aber Roses Magen verdrehte sich, als sie eine Frau in den Zwanzigern bemerkte, die mit einer durchgeschnittenen Kehle auf sie zukam.

Rose öffnete den Mund, war sich aber nicht sicher, welchen Laut sie von sich gab. Sie war sich nicht sicher, wohin sie ging und gab ihren Füßen die Kontrolle, um die Menschen – die Zombies, wie sie sich einredete – im Zickzack zu umgehen. Das sind verdammte Zombies, ermahnte sie sich und sprintete die Seitenstraßen und Alleen hinunter, die sich längst in ihr Unterbewusstsein eingebrannt hatten. Ein animalischer Instinkt trieb sie weiter, ohne dass sie ihre Umgebung wahrnahm. Gebäude und Straßenlaternen wurden zu verschwommenen Linien.

Egal, wie schnell sie rannte, es war, als wären die Untoten immer nur ein oder zwei Schritte hinter ihr. Die totenstille Nacht betonte nur die Schritte, die sie über die Straße schleppten. Rose wagte es nicht, über ihre Schulter zu schauen. Sie wagte nicht zu sehen, wie viele ihr folgten. Zehn? Zwanzig? Verdammt, vielleicht sogar eine ganze Armee. Vielleicht schwärmten sie aus den Friedhöfen und Leichenhallen aus, nur um sie zu verfolgen. Trotzdem blickte sie nicht zurück. Sie konnte diesen Albtraum nicht wahr werden lassen, sonst würden ihre Knie nachgeben – und was dann?

Als sie wieder bei Sinnen war und ihre Umgebung erkennen konnte, sah sie sich in einer Straße wieder, die ihr bekannt vorkam. Sogar im nicht existierenden Mondlicht erkannte sie die fast identischen einstöckigen Häuser und die sorgfältig geschnittenen Rasenflächen. In dieser Straße war sie früher mit dem Fahrrad gefahren, hatte den ganzen Samstagnachmittag auf dem Rasen des Nachbarn gespielt oder wäre fast über einen Briefkasten gekracht, als sie sich das erste Mal am Malibu ihrer Mutter versuchte. Als würde sie das Ganze unterstreichen, drehte sich Rose um und sah sich mit demselben Haus konfrontiert, in dem sie ihre ganze Kindheit verbracht hatte.

Das Haus war blau, die Fenster dunkel und die Einfahrt leer. Hatte ihre Mutter es schon verkauft? Sie hatte gesagt, dass sie das tun würde, denn ihre Mutter war längst in eine betreute Wohngemeinschaft am anderen Ende des Bundesstaates gezogen, aber es war nirgends ein „Zu verkaufen“-Schild zu sehen. Rose verdrängte den Gedanken und eilte zur Haustür. Ihre Schritte fühlten sich schwer an und es klang, als würde das Schlurfen der Zombies immer lauter und dichter werden. Rose riss die Fliegengittertür auf und drehte den Griff.

Sie war verschlossen.

„Scheiße“, murmelte sie. Sie versuchte es noch einmal, als ob sich die Tür irgendwie auf magische Weise öffnen würde. Rose schob ihre Hand noch einmal in ihre Hose und hoffte, dass sie den Schlüssel für dieses Haus noch besaß. Ihr Gesicht wurde blass, als sie merkte, dass ihre Taschen leer waren.

„Hilfe!“, schrie sie und hämmerte gegen die Tür. Die Schläge klangen hohl gegen das Holz. Ein Schauer durchlief sie. Wahrscheinlich war die ganze Stadt ausgehöhlt. Eine einzige Leiche, die so tat, als sei sie noch am Leben. Wartend darauf, zuzuschlagen.

Ein Schatten fiel über sie, als die schleifenden Schritte – die wie eine ganze Armee von Schritten wirkten – direkt hinter ihr zu sein schienen.

Dann öffnete sich die Tür und eine schemenhafte Gestalt kam zum Vorschein. Roses Atem blieb ihr im Hals stecken, als sie zurückwich. Die Gestalt packte sie am Arm und zog sie ins Haus. Ein Geruch von Schimmel und Most überfiel ihre Sinne, nachdem sie die Schwelle überschritten hatte. Rose stürzte nach vorn und erwartete, dass der Glassplitter ihren Rücken durchbohren würde. Stattdessen schlug die Tür zu und die Stille setzte ein.

„Rose?“, fragte eine männliche Stimme in der Dunkelheit.

Rose blinzelte zu der Gestalt und ihre Augen gewöhnten sich langsam an die beinahe totale Dunkelheit des Wohnzimmers. Ein Mann um die vierzig huschte zu ihr. Sein braunes Haar war zu einem unordentlichen Kurzschnitt frisiert und die Bartstoppeln in seinem Gesicht gaben ihm ein leicht verhärmtes Aussehen. Der Mann trug ein weißes Tank-Top und eine Jeans, die die zahlreichen Schnitte und blauen Flecken an seinen Armen verrieten.

„Pierce?“, fragte Rose und zog die Stirn in Falten. Pierce beachtete sie kaum, stattdessen eilte er zum Fenster und spähte durch die Vorhänge. Ein leises Donnergrollen ließ Rose erschaudern. Reiß dich zusammen, befahl sie sich. Doch der logische Teil ihres Gehirns konnte ihre eigene Hysterie nicht beruhigen. Sie waren tot! Sie hatten keine Farbe in den Augen. Nur weiß, wie die Leichen im Keller von Murdock’s. Sie sind zurückgekommen, um ihre Arbeit zu beenden.

„Deine Freunde kommen, um dich zu holen …“

„Rose!“, rief Pierce und schüttelte sie grob an den Armen. Rose zuckte zusammen. Sie öffnete und schloss ihren Mund mehrmals, doch alle Fragen, die sie stellen wollte, sprudelten auf einmal heraus. Dann tat Pierce etwas, was die Worte noch weiter zurückweichen ließ: Er zog sie in eine enge Umarmung. In all ihren 34 Jahren hatte er das noch nie getan. Als sie sein Moschus-Aftershave roch, hätte sie am liebsten gekotzt und wäre parallel dazu ohnmächtig geworden. „Mein Gott, ich kann nicht glauben, dass du gekommen bist.“

Rose riss sich schließlich los und beäugte Pierce aufmerksam. Irgendetwas an ihm war anders, obwohl sie nicht genau sagen konnte, was.

„Was ist passiert?“, flüsterte sie schließlich.

Pierce seufzte, als er sich von ihr löste und zurück zum Fenster des Wohnzimmers wanderte. Erst da fiel ihr auf, wie kahl der Raum war. Die alte Couch, auf der sie und ihre Mutter sich immer Filme ansahen, die alte Standuhr, die sie von ihrer Großtante geerbt hatte, der antike Couchtisch, den ihr Bruder ihrer Mutter zum Geburtstag geschenkt hatte – die einzige wirklich nette Sache, die Pierce je für sie getan hatte, dachte Rose – sie alle waren verschwunden und hinterließen einen struppigen grauen Teppich mit Abdrücken an der Stelle, wo eigentlich die Möbel stehen sollten. Es war, als ob es nicht mehr ihr Haus wäre. Offen gesagt, war es das auch nicht. Es war schon lange nicht mehr Roses Zuhause, zumindest hatte sie das gedacht. Die Erinnerung an das Haus, das es nicht mehr gab, hielt sich wie ein Geist in ihrem Hinterkopf fest. Hier zu sitzen, in dieser ausgehöhlten Schale, hinterließ ein leeres Gefühl in ihrer Brust.

„Was ist passiert?“, fragte Pierce und holte eine Schachtel Zigaretten aus seiner Gesäßtasche. Er nahm eine heraus, steckte sie sich zwischen die Lippen und zog an ihr. Rose beobachtete die Glut, während sie darauf wartete, dass er weitersprach. Nachdem es sich wie eine halbe Stunde angefühlt hatte, atmete Pierce eine graue Rauchwolke aus. „Es war … vor ein paar Nächten. Ich war im Jack’s und trank ein Bier. An diesem Abend war es aus irgendeinem Grund sehr ruhig. Ich weiß, dass du dich nie für Bars interessiert hast – du warst immer sehr zimperlich, Rosie – aber freitagabends ist es dort normalerweise super. Aber an diesem Tag war irgendetwas nicht in Ordnung. Ich bin mir nicht sicher, was es war. Als ob die Luft schwer wäre. Dick. Das muss die Leute abgeschreckt haben. Ich dachte nur, es würde regnen.

Gegen halb zehn kam Jimmy Mann herein und erschreckte uns fast zu Tode. „Sie kommen“, war das Einzige, was er sagte. „Sie kommen aus dem See!“

Mann drehte wirklich durch. Lou, der Barkeeper, gab ihm schließlich einen Drink und nach ein paar Minuten hatte er sich soweit beruhigt, dass er reden konnte.“

Pierce nahm einen weiteren langen Zug von seiner Zigarette, deren Glut fast bis zum Filter hinunterlief. Er stieß einen langen grauen Rauchstoß aus, der in der Dunkelheit zu verweilen schien. Rose unterdrückte ein Husten. Mein Gott, dachte sie, als sie das Kunststück beobachtete. Wie schafft man das nur, ohne sich eine Lunge zu zerfetzen? Pierce legte die Zigarette auf die Fensterscheibe, bevor er sich wieder seiner Schwester zuwandte.

„Er sagte, er sei beim Nachtangeln am Lover’s Lake gewesen, als es einen großen Knall und einen Lichtblitz gab. Er konnte nicht sehen, was es war – das Licht kam aus der Mitte des Sees und er stand auf dem Pier – aber er glaubte, ein großes Metallding gesehen zu haben, aus dem der Blitz kam. Er sagte, es sei zu schnell untergegangen, als dass er ein Foto hätte machen können. Dann meinte er, dass sie aus dem See kamen.“

Der Raum erhellte sich für einen Moment, als ein Blitz in den Himmel einschlug. Wenige Augenblicke später prasselte der Regen auf das Dach.

„Du meinst … die Zombies?“, fragte Rose mit leiser, zitternder Stimme. „Hat er das gemeint? Die Zombies?“

Pierce‘ Augen verdrehten sich. Er neigte den Kopf, sodass die Schatten über sein Gesicht spielten. Einen Moment lang waren seine Augen in der Dunkelheit verborgen und erinnerten Rose an den Mann im Supermarkt. Ihre Brust zog sich zusammen und das Kribbeln einer bevorstehenden Panikattacke betäubte ihre Fingerspitzen. Als Pierce einen Schritt nach vorn trat, löste sich das Bild und ließ Rose kalt und zitternd zurück.

„Das sind keine Zombies“, antwortete Pierce mit leiser Stimme. So ähnlich hörte er sich an, wenn er versuchte, Rose Angst einzujagen. Wollte er das jetzt auch tun? Aber das übliche Grinsen, das er immer aufsetzte, wenn er das versuchte, war nicht zu sehen. Stattdessen trat er vor, packte Rose am Arm und zog sie hoch. Roses Körper hing zunächst schlaff herunter – sie war sich nicht sicher, ob es an der Erschöpfung oder an einer geistigen Unterbrechung lag – und es kostete sie das bisschen Willenskraft, das sie noch hatte, um aufrechtzubleiben. Er führte sie, wenn auch ein wenig unsanft, zum Fenster.

„Schau hinter sie“, flüsterte Pierce ihr ins Ohr. „Schau auf den Regen.“

Rose verweigerte den Blick nach draußen. Sie konnte es nicht ertragen, diese blassen Gesichter zu sehen, ihre steifen Bewegungen, die Art, wie ihre Köpfe auf ihren Schultern ruhten. Pierce legte seine Hand unter ihr Kinn und zwang Roses Blick zum Fenster.

Ein dünner Regenschleier verzerrte alles und ließ die wandelnden Leichen zu verschwommenen Figuren werden. Die Luft hinter ihnen flimmerte, als ob der Regen auf etwas traf und herunterglitt, das man nicht sehen konnte. Je mehr Rose in den Regen starrte, desto deutlicher wurden ihre Umrisse – oder zumindest das, was die Anordnung des Regens verriet.

Hinter jeder Leiche zeichneten sich die Konturen von humanoiden Wesen ab. Sie waren mindestens drei Meter groß und beugten sich mit ihren kugeligen, gesichtslosen Köpfen über die Leiche, der sie folgten. Ob sie irgendwelche besonderen Merkmale besaßen, konnte Rose nicht erkennen. Es war, als würde man in Glas schauen – der Bereich, in dem die Kreaturen standen, war verzerrt und verriet nur die Grundzüge. Rose beobachtete, wie der Leichnam eines jungen Mannes ein paar Schritte nach vorn taumelte und die unsichtbare Kreatur ihre langen, dünnen Arme über ihn hielt. Mit jeder Bewegung, die der junge Mann ausführte, folgte ihm die Kreatur. Es war, als wäre es ein Puppenspieler und der Leichnam die Marionette.

„Siehst du sie jetzt?“, fragte Pierce.

„Ja“, antwortete Rose, ihre Stimme war fast ein Quietschen. „Was sind sie?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete Pierce. „Wir dachten, Jimmy hat den Verstand verloren, als er es uns sagte. Das war, ehe die Leichen in den Leichenhallen wieder auftauchten. Dann begann das Töten. Die Geschosse haben sie nicht aufgehalten. Telefone, Autos und Computer funktionieren nicht mehr in ihrer unmittelbaren Nähe. Wir konnten nicht um Hilfe rufen. Als alles gesagt und getan war, waren die Straßen rot vor Blut. Wäre der Regen nicht gewesen, wären sie es wahrscheinlich immer noch.“

Rose warf einen weiteren Blick aus dem Fenster. Es nieselte nur noch leicht, sodass die Umrisse des Titanen immer undeutlicher zu erkennen waren.

„Warum brauchen sie Leichen?“, fragte sie.

Pierce trat an ihre Seite und öffnete den Vorhang, um mit ihr auf die Straße zu schauen. Er wirkte blasser, als sie es in Erinnerung hatte. Wahrscheinlich von all dem, was passiert ist, überlegte Rose. Wahrscheinlich sehe ich selbst wie ein Geist aus. Zum ersten Mal seit Langem tat er Rose leid.

„Sie können nichts berühren, was nicht tot ist“, erklärte Pierce. „Sie können mit den meisten Dingen nicht von sich aus interagieren. Ich glaube, sie wollen die Welt bevölkern, aber die meisten von ihnen können nicht richtig mit Menschen umgehen … viele können nicht richtig laufen, nicht sprechen, keine Gefühle zeigen … jedenfalls noch nicht …“

Pierce drehte sich abrupt zu Rose um und umarmte sie noch einmal. Die Bewegung war so plötzlich, dass sie das bisschen Atem, dass sie noch in ihren Lungen besaß, fast ausstieß.

„Ich bin so froh, dass du hier bist“, sagte er. „Wir müssen von hier verschwinden. Sag den Leuten Bescheid.“

„Das werden wir“, antwortete Rose. Sie hob ihre Arme und ließ sie einen Moment in der Luft schweben, dann schlang sie diese um ihn. Es war eine feste Umarmung, denn es war das erste Mal, dass sie ihn wirklich umarmte und es auch so meinte. Alles wäre nicht so schlimm, wenn sich seine Haut nicht wie Eis auf ihrer anfühlen würde.

Als Rose sich zurückzog, streiften ihre Hände Pierce‘ Hinterkopf. Etwas Nasses und Klebriges haftete an ihren Fingern. Als sie ihre Hand ans Licht hielt, entdeckte sie eine dicke Blutschicht auf ihrer Hand.

„Pierce?“ begann Rose, die Augen vor Verwirrung zusammengekniffen.

Als sie ihm direkt in sein Gesicht sah, spürte sie, wie ihre Haut kalt wurde. In dem schwachen Licht wirkten sie milchig. Tot. Rose öffnete ihren Mund, aber das, was dabei herauskam, ließ sich kaum verstehen.

Pierce grinste, seine blasse Haut war steif und rissig.

„Hast du Angst, Rosemary?“

 

 

Original: Steven Winters

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